Süddeutsche Zeitung

US-Geschichte:Schläger in Uniform

Unter Donald Trump sind die Vereinigten Staaten so gespalten wie selten. Doch schon einmal herrschte vor einer Präsidentschaftswahl ein extremes Klima der Angst: Rückblick auf die Gewaltexzesse beim Nominierungsparteitag der Demokraten in Chicago im August 1968.

Von Willi Winkler

Bei seiner Trauerrede für den verstorbenen schwarzen Senator John Lewis beschwor Barack Obama am 30. Juli eine der finstersten Gestalten der amerikanischen Geschichte herauf, den rassistischen Gouverneur von Alabama: "George Wallace lebt zwar nicht mehr, aber wir werden Zeuge, wie unsere Regierung Männer losschickt, um mit Tränengas und Schlagstöcken gegen friedliche Demonstranten vorzugehen."

Das war eine Erinnerung an die gewalttätigen Sechziger, an die Jahre, in denen sich vielleicht in San Francisco einige Dutzend Wohlstandskinder die berühmten Blumen ins Haar steckten, in den ganzen übrigen Vereinigten Staaten aber die Angst vor einem Rassenkrieg umging. Die Bürgerrechtsbewegung machte vielen Angst: Es war ein weißer Rassist, der im April 1968 in Memphis den schwarzen Prediger Martin Luther King erschoss; FBI-Chef J. Edgar Hoover hatte ihn jahrelang observieren und erpressen lassen.

Die Unruhen der Sechziger kehrten wieder, nachdem im vergangenen Mai George Floyd bei der Festnahme unter den Händen der Polizei gestorben war, und die Angst war wieder da. Die Bewegung "Black Lives Matter" forderte die Entwaffnung einer offensichtlich rassistischen Polizei. Brandsätze flogen, es kam zu Plünderungen und Festnahmen, Polizisten und Demonstranten wurden verletzt. Schlagstöcke und Tränengas, wie sie Obama angesprochen hatte, fanden Verwendung, als sein Nachfolger im Weißen Haus den Weg freiprügeln ließ, um sich mit einer Bibel in den Händen als Verteidiger des guten Amerika zu präsentieren. Donald Trump appellierte an eine weiße Mehrheit, als er beklagte, die Situation im Land sei nach den Demonstrationen von "Black Lives Matter" außer Kontrolle. Eine "Stadtguerilla führt Krieg", behauptete sein Justizminister William Barr beim Sender Fox News. "Bolschewisten" seien das, die mit "faschistischen Methoden" kämpften.

Floyds Schicksal und die nachfolgenden Unruhen erinnerten an die Schlacht, die im Juli 1967 in Newark im Staat New Jersey tobte. Anlass war auch damals ein Übergriff der Polizei gewesen, oder wie es der in Newark geborene Schriftsteller Philip Roth nannte, ein "typisch amerikanischer Amoklauf". John Smith hatte mit seinem Taxi ein stehendes Polizeiauto überholt, das sogleich die Verfolgung aufnahm. Die Polizisten stoppten seinen Wagen, schlugen den Fahrer zusammen und schleppten ihn dann aufs Revier. Sie waren weiß, Smith war schwarz, und das bekam er zu spüren. "Ich habe mich nicht gewehrt. Sie quetschten mir die Rippen ein, brachen mir eine Leiste und schlugen mir ein Loch in den Kopf. Im Polizeirevier traten mich sechs, sieben weitere Beamte in die Rippen und in den Hintern. Sie schleppten mich in eine Zelle, hielten meinen Kopf über die Toilettenschüssel, und droschen mir mit einem Revolverknauf auf den Hinterkopf." In den Unruhen, die seine polizeiliche Behandlung ausgelöst hatte, starben innerhalb weniger Tage 26 Menschen, mehr als 1500 wurden verletzt, 1397 festgenommen, es entstand ein Schaden von 15 bis 20 Millionen Dollar (nach heutiger Kaufkraft 100 bis 140 Millionen).

Es gab prominente Aktivisten, die Gewalt als Voraussetzung für eine Revolution verteidigten

Anders als bei den üblichen Übergriffen gab es hier Zeugen, die beobachtet hatten, wie die Polizisten mit ihrem Opfer umgingen. Vor allem fanden die Unruhen ihren prominenten Chronisten in Tom Hayden, dem ehemaligen Präsidenten des SDS (Students for a Democratic Society), der als Sozialarbeiter in dieses von der lokalen Politik aufgegebene Schwarzenviertel gezogen war. Sein Bericht über die Ereignisse in New Jersey erschien in der Intellektuellenzeitschrift New York Review of Books. Der Artikel war auf dem Titel angekündigt, und unten auf der Seite stand eine stilisierte Anleitung zum Basteln eines Molotow-Cocktails.

Bei den sechstägigen Unruhen in Newark waren tatsächlich auch Brandsätze geflogen. Der Vietnamkriegsgegner Hayden, eine Art amerikanischer Daniel Cohn-Bendit, verteidigte den Einsatz von Gewalt als unumgängliche Voraussetzung für eine Revolution. Im Dezember 1967 meldete sich Hayden in New York bei einer politischen Debatte zum Thema "Ist Gewalt zu legitimieren?" mit der Feststellung: "Es gibt auch in der Friedensbewegung gute Gründe für Gewalt." Hannah Arendt, die Hauptrednerin, wies Haydens leidenschaftliches Eintreten für Gewalt zugunsten einer guten Sache zurück: "Gewaltsamer Widerstand gegen die Regierung der Vereinigten Staaten ist grundsätzlich falsch."

Doch im August 1968 trieb der Widerstand gegen die offizielle Politik der Vereinigten Staaten auf seinen Höhepunkt zu. Im August eines Wahljahrs werden auf pompös inszenierten Versammlungen traditionell die Kandidaten der großen Parteien nominiert. Die Situation war diesmal anders als bei den Kundgebungen davor. Der Krieg in Vietnam kam inzwischen jeden Tag in die Wohnzimmer. Allein im August starben 1214 amerikanische Soldaten, im ganzen Jahr 1968 sollten es 16 899 werden. 1968 war nicht nur das Jahr der großen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, sondern auch das Jahr der politischen Morde. In Memphis wurde Martin Luther King erschossen; in Los Angeles brachte ein Attentäter Robert F. Kennedy um, Bruder des ebenfalls ermordeten Präsidenten und die liberale Hoffnung der demokratischen Partei.

Doch die Partei war wie das Land tief gespalten. Durch den amtierenden Präsidenten Lyndon B. Johnson galten die Demokraten als Kriegspartei. In Chicago bewarben sich Johnsons Vizepräsident Hubert Humphrey und die Senatoren George McGovern und Eugene McCarthy. George Wallace, der ebenfalls demokratische Gouverneur des Staates Alabama, hatte sich bereits selbständig gemacht und wollte im November als Unabhängiger antreten. Wallace versprach seinen Wählern, die Rassentrennung in Schulen und Restaurants aufrechtzuerhalten. Als Vizepräsidentschaftskandidaten wählte er den ehemaligen General Curtis LeMay, der für den Einsatz von Atomwaffen plädiert hatte und die Vietnamesen in die Steinzeit zurückbomben wollte. Eine von Johnson eingesetzte Kommission hatte Anfang des Jahres die Befürchtung geäußert, dass die USA in zwei Gesellschaften zerfallen könnten, eine schwarze und eine weiße. George Wallace und Richard Nixon forcierten diese Spaltung.

Richard Nixon, der Kandidat der Republikaner, wollte die "schweigende Mehrheit" der Weißen erreichen

Nixon, zwei Wochen vorher in Miami bereits als Kandidat der Republikaner nominiert, wollte die silent majority vertreten, jene Amerikaner, die nicht auf die Straße gingen, nicht demonstrierten und schon gar keine Steine auf Polizisten warfen. Nixon redete über die anschwellende Kriminalitätsrate und versprach law and order. Bei ihm dürfe man sich nachts wieder vor die Tür trauen. Nixon versprach in Washington aufzuräumen und erwähnte sogar die Bürgerrechte, das große Thema Martin Luther Kings. Allerdings meinte er nicht dessen Kampf um Gleichberechtigung für die Schwarzen, sondern sprach vom "ersten Bürgerrecht aller Amerikaner", dem "Recht, zu Hause von Gewalt verschont zu werden". Es war die perfekte Formel für die weiße Mehrheit, weil sie genau das Gefühl von Angst verstärkte, das bereits die Bilder von den Demonstrationen vermittelten.

Niemand lag weniger an Gewalt als der Youth International Party, den Yippies, die mit ihren ungebärdigen Faxen für Aufsehen und Aufregung sorgten. In einem Manifest hatten sie schon Anfang des Jahres 1968 dazu ermuntert, massenhaft nach Chicago zu ziehen. Nach einem eigens verabschiedeten Gesetz machten sich alle strafbar, die über die Bundesstaatsgrenze kamen, um Ausschreitungen anzustiften. Für die Yippies war das erst recht ein Grund, in Chicago ein Happening zu veranstalten. "Kommt, ihr Rebellen, Jugendbewegten, Rockkünstler, Wahrheitssucher, Spinner, Dichter, Barrikadenstürmer, Tänzer, Liebenden und Künstler! Die Drohungen von LBJ (Lyndon B. Johnson), Bürgermeister Daley und J. Edgar Freako (FBI-Chef Hoover) werden uns nicht aufhalten. Wir kommen! Wir fordern ekstatische Politik! Wir sind die zarten Triebe einer neuen Wildheit, die Amerika verändern wird. Wir schaffen unsere eigene Wirklichkeit, wir sind das freie Amerika und wir werden das falsche Theater des Todesparteitags nicht hinnehmen!" Der Aufruf endete mit einer wilden Behauptung: "Chicago gehört uns!"

Chicago befand sich aber fest in der Hand der Demokraten, und deshalb wurde dort der Nominierungsparteitag ausgerichtet. Bürgermeister Richard Daley wollte dafür sorgen, dass die Stadt auf keinen Fall in fremde Hände geriet. Die Angst war groß, es könnte zu einem Aufstand wie in Newark kommen, und die Angst war berechtigt: Nicht nur die Yippies, auch verschiedene politische Gruppen planten mit dem Hotspot Chicago, um auf dieser Bühne gegen den Krieg in Vietnam zu protestieren, aber auch gegen den Rassismus, gegen die sozialen Gegensätze in den USA.

Der Bürgermeister von Chicago hatte für die Polizisten und Soldaten vorsorglich einen Schießbefehl ausgegeben

Während im politischen Obergeschoss die künftige Machtverteilung verhandelt wurde, wollten die Demonstranten die Sache auf der Straße ausfechten. Daley musste das mit allen Mitteln verhindern. In Chicago standen den 5000, vielleicht 8000 Demonstranten 25 000 Polizisten, Soldaten und Nationalgardisten gegenüber; vorsorglich hatte Daley einen Schießbefehl ausgegeben.

Für Publikum war gesorgt: Nicht nur das Fernsehen war bei dieser seit Monaten angekündigten Auseinandersetzung präsent, auch Schauspieler wie Paul Newman und Schriftsteller wie Arthur Miller. Esquire schickte William Burroughs und Jean Genet, für Harper's kam Norman Mailer. Auch der Reporter Hunter S. Thompson war dabei und erlebte einen "Albtraum", den er "um nichts auf der Welt missen möchte".

Die Yippies hatten auf jeden Fall ihren Spaß: Warum nicht LSD ins Trinkwasser, um die Stimmung zu heben? Die Delegierten von Hippie-Mädchen verführen lassen und auf andere Gedanken bringen? Oder gleich ein öffentliches Fuck-In? Sie brachten ihren eigenen Kandidaten mit, genannt "Pigasus", dessen Nominierung am Vorabend des Parteitags bekannt gegeben wurde. Oder wie es der CIA-Bericht trocken formulierte: "Am 23. August wurden Mitglieder der Youth International Party (Yippies) und ihr Kandidat, ein Schwein, im Bürgerzentrum von Chicago festgenommen."

Es wurde dann aber doch nicht ganz so lustig: Die Yippies vollführten zwar ihre Streiche und ließen sich vor laufender Kamera verhaften, Allen Ginsberg ommte stundenlang für Gewaltlosigkeit, aber die Polizisten, von den Demonstranten wüst beschimpft und mit Flaschen und Steinen beworfen, prügelten aus Leibeskräften auf alles ein, was jung war und längere Haare hatte. Auch der CBS-Reporter Dan Rather wurde von der Polizei geschlagen, das Fernsehen übertrug live. Für den Schriftsteller Norman Mailer waren die fünf Tage im August "wie Vietnam". Von seinem sicheren Zimmer im Hilton beobachtete er, wie die Staatsmacht mit der "Wildheit eines Tropengewitters" vorging: "Die Polizisten griffen mit Tränengas, mit Pfefferspray, mit Schlagstöcken an und sie marschierten voran, wie sich eine Motorsäge ins Holz frisst: Die Spitzen ihrer Knüppel waren die Zähne der Säge, sie mähten sich wie eine Sichel ins Gras, zwanzig, dreißig Polizisten, die in Bogenformation vorrückten, die Stöcke schlugen zu, die Demonstranten flohen. Von oben, aus dem 18. Stock, war es, als würde der Wind Staub wehen, oder wie die Schaumkrone einer Welle am Strand." Immerhin konnte Mailer dem Schauspiel einen ästhetischen Reiz abgewinnen: "Das Licht war ein herrliches Graublau, die Uniformen der Polizei waren himmelblau."

Chicago bot nicht nur der Spaßguerilla die ideale Bühne, sie war es auch für den Protest gegen den Vietnamkrieg. Tom Hayden wollte den eskalierenden Krieg auch auf der Straße, Vietnam sollte nicht nur auf den Bildschirm, sondern ganz nach Hause kommen. Bewusst setzte er auf Provokation. "Wenn Blut fließen sollte, sorgt dafür, dass es in der ganzen Stadt fließt. Wenn sie auseinanderbrechen und verletzen wollen, dann werden wir die ganze stinkende Stadt auseinanderbrechen", verkündete er. Teil des Kalküls war, durch die Schlacht um Chicago die "schlafenden Hunde im rechten Lager zu wecken".

Ein Untersuchungsbericht kam später zu dem Ergebnis, dass die Polizei jedes Maß überschritten hatte. Es handelte sich um police riot, um Ausschreitungen und Übertretungen, die vor allem von der Polizei begangen worden waren. Jemand zählte nach und kam (ohne Pigasus) auf 668 Verhaftungen, 1100 Demonstranten waren verletzt worden, die meisten durch das Tränengas. Die Empörung über die landesweit übertragene Polizeigewalt hielt sich in Grenzen. Daley erhielt angeblich 135 000 Briefe, in denen sein hartes Vorgehen gelobt wurde; nur 5000 waren negativ.

Eine Woche nach der Nominierung Hubert Humphreys brachten die Rolling Stones die Single "Street Fighting Man" heraus. Der Song durfte von den Radiosendern in Chicago nicht gespielt werden.

Als der Parteitag vorbei war, als die Straßen geräumt und die Yippies und Vietnamgegner, als die Schriftsteller und Schauspieler wieder abgereist waren, kam der Wahlkämpfer Richard Nixon in die Stadt und predigte sein schlichtes Evangelium von law and order. Am 5. November, zehn Wochen nach den Ausschreitungen in Chicago, wurde er zum 37. Präsidenten der USA gewählt. Der Krieg in Vietnam ging noch sieben Jahre weiter.

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