Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen:Verloren im alten Revier

"Das ist nicht vergnügungssteuerpflichtig": In ihrem Stammland laufen der SPD die Mitglieder in Scharen davon, doch längst nicht jeder CDU-Kandidat wird dadurch sofort zum Siegertypen.

Von Stefan Klein

Der Bürger Johannes R. sagt achtzehn, er sagt zwanzig, dann passt er. Man sieht ihm an, dass er sehr lange sehr krank war. Aber langsam gehe es wieder aufwärts, sagt der Bürger R., und weil das so ist, hat er sich bereit erklärt, aus Berlin herzukommen ins ferne Essen, um diesen Termin wahrzunehmen: Skatspielen für einen guten Zweck.

Peer Steinbrück  spiegelt sich in Düsseldorf beim Straßenwahlkampf in der Brille eines Sicherheitsbeamten.

Peer Steinbrück spiegelt sich in Düsseldorf beim Straßenwahlkampf in der Brille eines Sicherheitsbeamten.

(Foto: Foto: dpa)

Er begrüßt seine Skatbrüder mit einer kleinen Rede, in der er auch auf die Landtagswahl am 22.Mai zu sprechen kommt. Der blicke er "ziemlich nervös" entgegen, sagt R., und woraus sich diese Nervosität speist, kann man sich denken.

Die SPD ist in keiner guten Verfassung, und wie nahe ihm das geht, kann der Bürger R. ja jetzt ruhig zeigen, da er nicht mehr über den Dingen stehen muss - als ehemaliger Bundespräsident. Schließlich war er ja auch mal Nordrhein-Westfalens sozialdemokratischer Ministerpräsident.

Es stellt sich dann aber heraus, dass Johannes Rau im Nachhinein fast ein bisschen erschrocken ist über seine Bemerkung in der Skatrunde - und wie wir sie interpretiert haben.

Er findet nämlich, dass "man nicht fünf Jahre überparteilich sein kann und plötzlich wieder parteilich". Nein, seine Äußerung habe sich nicht auf das sehr ungewisse Schicksal der SPD bei dieser Wahl bezogen, sondern auf die Wahlbeteiligung, die nicht noch tiefer sacken dürfe als beim Rekordtief vor fünf Jahren.

Vielleicht ist es aber auch so, dass manchmal das Herz lauter spricht als der Verstand, und wie sollte das anders sein, wenn es einem gehört, für den die Partei der Sozialdemokraten schon seit fast einem halben Jahrhundert Heimat ist? "Seit dem 2. Juni 1957", sagt Rau, der berühmt ist für sein Elefantengedächtnis.

Es darf geschunkelt werden

Johannes Rau wird nicht wählen am 22. Mai. Er hat ja jetzt seinen ersten Wohnsitz in Berlin, das alte Haus in der Katernbergerstraße in Wuppertal hat ausgedient und wird verkauft werden.

Soll aber keiner glauben, dass für Rau der kommende Sonntag einer von vielen sein wird. Er hängt an NRW, er leidet mit NRW. Er sieht, dass es dem Land nicht gut geht, dass es kein Selbstbewusstsein hat und Konjunktur in den Medien schon lange nicht mehr.

Er sagt: "Jahrzehntelang haben wird gezahlt, damit Bayern kein rückständiges Agrarland bleibt, und jetzt diese Herablassung." Rau tut das weh, und man sieht es ihm an. Dann kommt einer und sagt, er wolle einmal dem Bundespräsidenten die Hand drücken. Er ist aus Moers. Rau sagt, in der Nähe von Moers habe er ein Patenkind. Es gibt keinen Flecken in NRW, wo er nicht jemanden kennt.

Später fahren Rau und seine Frau zurück nach Berlin, und wir fahren nach Kettwig. Da kehrt Essens wohlhabender Süden dem Elend im Norden den Rücken zu. Vor fünf Jahren hat die CDU hier ihr einziges Mandat in der Stadt geholt. Diesmal versucht es für die SPD ein Peter Weckmann, und heute Abend ist er gewissermaßen der Gastgeber in einem Zelt, das sie auf einer Uferwiese an der Ruhr aufgebaut haben.

Würste gibt es, Bier, sogar einen Jongleur. Eine Band spielt. "Es geht mir gut," singen sie, und an einem Tisch wird geschunkelt. Das hilft gegen die Kälte, die vom Fluss hereinkriecht ins halb leere Zelt. Geht es ihm gut, dem Kandidaten Weckmann? Er sagt, heute morgen hätten sie auf der Rüttenscheiderstraße 500 Rosen verteilt, und die seien prima angekommen. Aber Britta Altenkamp sagt: "Ich habe keine Angst vor der Opposition."

Sie sagt das ungefragt und fügt trotzig hinzu: "Wenn et so kommt, dann kommt et eben so, keine Katastrophe." Die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Altenkamp kandidiert in einem anderen Essener Wahlkreis, heute Abend hat sie sich zum Genossen Weckmann ins Zelt gesellt.

Zum Schunkeln oder Mitsingen ist ihr aber nicht zumute.

Verloren im alten Revier

Zwar findet sie, die Stimmung sei längst nicht mehr so garstig wie im letzten Sommer, und überhaupt seien die Leute nicht so abgekehrt von der Partei wie die Umfragen glauben machten, nur: Wer redet schon von der Opposition, wenn er noch Hoffnung hat auf den Sieg?

Peer Steinbrück

Neue Aufmachung soll Wähler ziehen: Peer Steinbrück.

(Foto: Foto: dpa)

Britta Altenkamp redet aber auch von der organisatorischen Schwäche der Partei, der Abschaffung der Bezirke, der Zusammenlegung von Unterbezirken. In dem labilen Zustand einen Wahlkampf zu führen, sei "wie eine Operation am offenen Herzen".

Stichwort Herz

Herz ist ein gutes Stichwort. Hier im Revier hat jahrzehntelang ein rotes Herz geschlagen, stärker als anderswo, und der Stadtteil Ückendorf in Gelsenkirchen war keine Ausnahme. Ückendorf, das die SPD aufgeteilt hatte in Ückendorf-Nord und Ückendorf-Süd, der eine Ortsverein auf den Bergbau ausgerichtet, auf die Zechen "Holland" und "Rheinelbe", der andere auf das große Gussstahlwerk. So war das, so hatte das seine Ordnung, und andere Parteien kamen praktisch nicht vor.

Alles war "fußläufig", wie man im Revier sagt, und was zu regeln war, regelten die Kumpels und die Stahlkocher auf dem Weg zum Betrieb. Oder im Schrebergarten. Oder im Verein. Oder eben im Ortsverein. Indes, die Betriebe gibt es nicht mehr. Die Pütts hat man dicht gemacht, das Stahlwerk stillgelegt. Die Ortsvereine gibt es noch, aber sie sind nicht mehr, was sie mal waren.

Mitglieder sterben weg

Peter Rose hat den Niedergang miterlebt. Der langjährige Kulturdezernent der Stadt Gelsenkirchen gehört dem Ortsverein Ückendorf-Süd an. Früher hatte der mehr als 200 Mitglieder, nun hat sich das halbiert. Bei den Versammlungen im Jugendheim in der Bochumerstraße, wenn es heißt, liebe Genossinnen und Genossen, erscheinen noch zwanzig Leute. Wenn's hoch kommt.

Jetzt ist Wahlkampf, und den Kandidaten zu unterstützen, Plakate zu kleben, Stände zu organisieren, ist eine Frage der Solidarität. Arbeit darf nicht liegen bleiben, durfte sie nie im Ruhrgebiet, doch Rose sagt: Es gibt nicht mehr genug Aktive, die sie machen könnten. Vieles ist normaler Schwund: Mitglieder sterben weg, der Nachwuchs bleibt aus. Hinzu kommen die Austritte wegen der Politik der Genossen Schröder und Clement in Berlin.

Anderswo ist es kaum besser. Ein Viertel der aktiven SPD-Mitglieder in NRW hat die Partei in den letzten zwei Jahren verlassen. Heute hat die SPD in ihrem Stammland weniger Mitglieder als die CDU und offensichtlich auch weniger Strahlkraft.

Das Genie des Johannes Rau war es ja, dass er der SPD einst jenseits der klassischen Klientel bürgerliche Wählerschichten erschlossen und auf diese Weise Rekordergebnisse erzielt hat, die noch immer unübertroffen sind. Harald Schartau, der heutige SPD-Landesvorsitzende, fährt eine Linie, deren Klugheit sich nur schwer erschließt.

Der ehemalige Gewerkschaftsfunktionär konzentriert sich ausschließlich auf die Stammwähler, und das sind genau jene, die zu den Verlierern der Schröderschen Reformen zählen. Die Apathischen, die Enttäuschten, die Feindseligen.

Endstation Sehnsucht

In Gelsenkirchen gibt es viele davon. Es ist eine Verliererstadt, und das muss man nicht an Schalke 04 festmachen. Allein die Demographie: Gelsenkirchen hatte mal knapp 400.000 Einwohner, heute sind es nur noch 270.000. Von denen, die arbeiten könnten, ist jeder Vierte ohne Job.

Jeder Vierte: Zur SPD-Party auf dem Josef-Büscher-Platz im Stadtteil Horst, zu Frühschoppen und Platzkonzert und zur Prämierung der schönsten Bollerwagen, mögen an diesem Tag vielleicht 120 arbeitsfähige Gelsenkirchener gekommen sein. Nach der Statistik hätten davon dreißig keine Arbeit.

Verloren im alten Revier

Kein Wunder, dass die Stadt zwischenzeitlich sogar mal bei der CDU Zuflucht gesucht und sich einen schwarzen Oberbürgermeister geleistet hat. Die Partei, die hier lange über ein Sektendasein nicht hinausgekommen ist, kämpft inzwischen auf Augenhöhe mit der SPD.

"Der will innen Landtag"

Naja, nicht ganz, und Werner Wöll weiß es. Der CDU-Kandidat für den Wahlkreis Gelsenkirchen II fährt einen BMW, der mit seinem Namen und dem seiner Partei beklebt ist, das macht ordentlich was her. Und wenn es nicht diese beiden Strichelchen auf dem o seines Nachnamens gäbe, hätten die Werbetexter ein klasse Wortspiel für's Faltblatt gehabt.

So hat es nur für ein "JaWöll" gereicht, und darüber würden die beiden Jungs, die jetzt am Infostand in der Bochumerstraße stehen bleiben, vielleicht kichern. Aber so ein Faltblatt zu lesen ist viel zu mühsam. Der eine zeigt auf das Bild vom Kandidaten und fragt: "Wer is dat?" Einer von Wölls Helfern sagt: "Der will innen Landtag." Die Jungen schnüren weiter durch den Niesel, Wöll und Helfer bauen den Stand ab. Die Wähler kommen nicht zu Wöll, also muss Wöll zu den Wählern.

Die nächsten zwei Stunden kann man den Kandidaten dabei beobachten, wie er an Türen klingelt und nicht müde wird, sein Sprüchlein aufzusagen, dass er der Kandidat der CDU ist und sich gerne einmal persönlich vorstellen möchte.

Schlimmeres gewöhnt

Man kann nicht sagen, dass den Leuten die Freude darüber direkt anzusehen wäre, aber Wöll ist wahrscheinlich Schlimmeres gewöhnt. Er ist Betriebsprüfer von Beruf. Vor fünf Jahren hat er es schon einmal versucht, da kam er auf 28,9 Prozent. Das ist steigerungsfähig, und wenn es am Ende doch wieder nicht klappt, dann war das Treppauf, Treppab wenigstens gesund.

Einmal zieht Kuchenduft durchs Treppenhaus, Wöll schnuppert irgendwie sehnsüchtig, aber dann ruft es kampfeslustig aus einer Tür "Studiengebühren find' ich den Hammer," und das bedeutet Endstation Sehnsucht. Wöll muss verteidigen.

Gelsenkirchen mag nicht mehr so rot sein, wie es war - aber für einen Christdemokraten ist es noch immer hartes Brot, hier zu kandidieren. Wie hart, das kann vielleicht Karsten Rudolph nachempfinden. Der macht auf den Plakaten in Brilon, in Meschede, in Marsberg einen so netten Eindruck, wie ein junger, engagierter Vikar sieht er aus.

Aber in seinem früheren Leben muss er sich schrecklich versündigt haben, denn sonst wäre er nicht als SPD-Kandidat im tiefschwarzen Sauerland wiedergeboren worden und müsste nicht in Wulmeringhausen in der Gaststätte Plitt-Schepers an einem Freitagabend 13 kernigen Genossen erklären, was er als Bochumer hier oben im rauen Hochland will. Ja, was eigentlich?

Verloren im alten Revier

Siegen jedenfalls nicht, soviel ist schon mal klar. Darauf ist hier, gleichsam als Naturgesetz, die CDU abonniert.

Am nächsten Morgen, nach einer stillen Nacht im stillen Wulmeringhausen, sitzt Rudolph als einziger Gast bei Plitt-Schepers im Frühstücksraum und schmiert sich ein Käsebrötchen. Draußen fährt der Platzhirsch von der CDU in einem Opel Manta vorbei: Hubert Kleff.

Das kalte Sauerland

Der ist Sauerländer und lässt es auf jedem Plakat wissen: "Einer von hier, einer von uns." Dagegen kann Rudolph nicht an. Er lehrt Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, spricht gepflegtes Hochdeutsch und ist evangelisch, was ja alles nicht verwerflich ist, aber so richtig dienlich ist es beim Stimmenfang im Sauerland auch nicht.

Seine Vorfahren mütterlicherseits sind aus der Iserlohner Gegend, immerhin, aber das ist märkisches Sauerland und zählt hier oben nicht. Wenigstens das Brötchen schmeckt. Das ist ein Trost. Der andere Trost ist, dass man Rudolph für seinen Opfergang auf der Landesliste abgesichert hat.

In Meschede ist es kalt. Rudolph steht bibbernd am SPD-Stand und sagt: "Ein Glühweinstand wäre besser." In Brilon ist es noch kälter und man denkt, dass aus dem Regen gleich Schnee werden könnte. Rudolph schnäuzt sich, zieht sich den Mantelkragen hoch und wärmt sich an der Tatsache, dass Brilon den einzigen SPD-Bürgermeister hat weit und breit.

Angst vor der Opposition

In Marsberg ist es nicht mehr ganz so kalt, aber weil schon Mittag ist und sich die Straßen leeren, ist nichts mehr zu tun. Sie bauen den Stand ab und ziehen ins SPD-Büro. Da ist es mollig warm, und es wartet ein gedeckter Tisch mit Hack und Zwiebeln, Brötchen, Käse und Kaffee. Solche Genossen lobt man sich, aber auch hier, wo es nur so wenige gibt, hat der Schwund eingesetzt: Von 120 auf 90 ist in Marsberg die Mitgliederzahl heruntergegangen.

So wie Britta Altenkamp aus Essen ist auch Rudolph stellvertretender Landesvorsitzender, aber er hat Angst vor der Opposition. Große sogar. Er sagt: "Das ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, das ist das Grausen, da dringen Sie nicht durch, da spielen Sie keine Rolle. Gucken Sie sich doch nur den Siegmar Gabriel in Niedersachsen an, wie der leidet."

Höhenluft soll ja alle möglichen Wirkungen haben, vielleicht setzt sie bei Flachländern Gefühle frei, und irgendwie ist es ja gut, wenn sie mal herauskommen. Im Fall des Karsten Rudolph ist es nicht nur die Angst, sondern auch die Verzweiflung darüber, was derzeit vorgeht im Land.

Es sei ja nicht etwa eine große Welle zugunsten der CDU, von der man fortgespült werde, die Wahrheit, sagt er, sei "viel grausamer." Man werde von den eigenen Leuten verlassen - "es ist ein stillschweigendes Abwenden".

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