Wahlkampf in der Türkei:Ein Land als Gerichtssaal

Muharrem İnce von der CHP ist einer der Herausforderer von Präsident Erdoğan.

Muharrem İnce, Präsidentschaftskandidat der CHP, hat Präsident Erdoğan wegen übler Nachrede verklagt.

(Foto: AFP)
  • Nicht nur Politiker und ihre Helfer haben viel zu tun im Wahlkampfendspurt in der Türkei - auch Richter und Anwälte bekommen dadurch mehr Arbeit.
  • Bisher hat sich vor allem Präsident Erdoğan damit hervorgetan, seine Gegner mit Beleidigungsprozessen zu überziehen.
  • Nun macht es der Präsidentschaftskandidat der CHP, Muharrem İnce, Erdoğan nach und verklagt den Präsidenten selbst wegen übler Nachrede.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Jeden Tag schreibt Mehmet Altan, Wirtschaftsprofessor und zu lebenslanger Haft wegen angeblicher Putschversuchsbeteiligung verurteilt, eine Beschwerde an das türkische Berufungsgericht, um nicht vergessen zu werden. Selahattin Demirtaş, auch im Gefängnis und Kandidat der linken Kurdenpartei HDP für die Präsidentenwahl, beschäftigt 100 Anwälte. Die Zeitungen füllen täglich Seiten mit Anklagen, Urteilen. Man könnte meinen, die Türkei sei ein einziger Gerichtssaal.

Viel Arbeit macht Richtern und Anwälten jetzt auch der Wahlkampfendspurt. Bislang galt Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der am 24. Juni um die Wiederwahl kämpft, als besonders geneigt, seine Gegner mit Beleidigungsprozessen zu überziehen. Nun aber macht es ihm sein Herausforderer Muharrem İnce nach. İnce, der für die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, antritt, hat Erdoğan gerade wegen übler Nachrede verklagt. Der Grund: Erdoğan hatte İnce auf einer Wahlveranstaltung im anatolischen Kayseri unterstellt, dieser bekomme seine Anweisungen "aus Pennsylvania".

Festgesetzt, weil sie einen Teekessel an eine Hauswand malten

Das ist das Schlimmste, was man einem türkischen Politiker derzeit nachsagen kann. Denn in diesem US-Bundesstaat lebt schon seit 1999 der türkische Prediger Fethullah Gülen, für Erdoğan ist er der Drahtzieher des Putschversuchs vom Juli 2016.

"Dieser Muharrem sagt, er wäre ein Physiklehrer. Mach weiter als Physiklehrer", spottete Erdoğan über İnce (der früher tatsächlich Lehrer war) und fügte hinzu: Der Kandidat der CHP könne ja leider nicht machen, was er will, wegen der fehlenden "Erlaubnis aus Pennsylvania". Dafür verlangt İnce nun 100 000 Lira (circa 20 000 Euro) Kompensation. Die Frage ist, ob sich dafür ein Richter finden wird.

Bereits verurteilt wurde der Parteichef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu: wegen Beleidigung, 185 000 Lira soll er an Erdoğan und dessen Familie zahlen. Weil er behauptet hatte, Erdoğan habe mit seinen Verwandten große Summen auf Offshore-Konten auf der Isle of Man transferiert. Innenminister Süleyman Soylu meinte dann, CHP-regierte Kommunen müssten dafür zahlen. Deshalb hat Kılıçdaroğlu jetzt Soylu angezeigt: wegen übler Nachrede. Und versichert, er zahle selbst. Der CHP-Chef verlangt diesmal nur eine symbolische Entschädigung von fünf Kuruş (ein Cent).

Zahlen muss auch Demirtaş, der seit 19 Monaten in Untersuchungshaft sitzende Kurdenkandidat, an Erdoğan: 15 000 Lira, wegen Beleidigung. Welche Strafe zwei Jugendlichen droht, die in Istanbul einen Teekessel an eine Hauswand malten, ist unklar. Ein Staatsanwalt hat sie erst mal festgesetzt. Die zwei hatten neben ihre Zeichnung geschrieben: "Es gibt eine Botschaft aus dem Teekessel." Das sollte an Demirtaş erinnern. Der hatte zuletzt über seine Anwälte so viele Twitter-Botschaften abgesetzt, dass seine Zelle durchsucht wurde. Dabei wurde kein Handy, aber ein Wasserkocher gefunden, worauf Demirtaş frech behauptete, er könnte auch damit Twitter-Nachrichten absetzen.

"Die sind benebelt, sie sagen, unsere Abgeordneten seien Diebe", schimpfte Erdoğan am Dienstag in der Stadt Eskișehir über die Opposition und riet allen Parlamentariern seiner Partei: "Klagt alle gegen diesen İnce". Nebenbei verriet Erdoğan noch, dass er Infos "vom Geheimdienst" bekomme, wer im kurdischen Diyarbakır zu den Auftritten der Opposition gehe. Dies nannte ein Kommentator im Massenblatt Hürriyet "einmalig", er rechne deshalb mit neuen politischen Spannungen vor der Wahl - und womöglich mit mehr Prozessen.

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