Wahlen zur Lok Sabha:Risse in Indiens verkrusteten Verhältnissen

Wahlen zur Lok Sabha: Szene in Neu-Delhi: Mit Plakaten wird dafür geworben, an der Parlamentswahl teilzunehmen.

Szene in Neu-Delhi: Mit Plakaten wird dafür geworben, an der Parlamentswahl teilzunehmen.

(Foto: AFP)

Dem politischen Establishment fällt es immer schwerer, sich seine Macht auf alte Weise zu sichern - viele Inder sehnen sich nach Wandel. Favorit der Wahl ist Hindu-Nationalist Narendra Modi. Aber der Politiker weckt auch eine wichtige Sorge.

Ein Kommentar von Arne Perras

Sie stapfen durch den Schnee im Himalaya, sie reiten auf Elefanten durch die Wälder von Assam, sie rudern durch die Sümpfe der Sundarbans und stehen Schlange in der Hitze von Rajasthan. Wenn mehr als 800 Millionen Menschen ihre Stimme abgeben sollen, braucht das seine Zeit. Fünf Wochen dauern die Wahlen zur Lok Sabha, dem indischen Unterhaus, die am Montag begonnen haben. Bis man weiß, wer die größte Demokratie der Welt führen wird, vergehen also noch einige Tage. Aber so spannend war es noch nie. Denn nun wird sich zeigen, ob der Koloss reif ist für eine politische Häutung, wie er sie seit der Unabhängigkeit nicht erlebt hat.

Viele Inder ersehnen den Wandel, aber ganz besonders drängelt die erstarkende Mittelklasse. Diese Schichten sind frustriert. Sie wollen sich aus verkrusteten Verhältnissen lösen, für die sie vor allem eine Kraft verantwortlich machen: die dynastisch geführte Kongresspartei, mit dem Nehru-Gandhi-Clan an der Spitze. Sie dominiert die Politik seit mehr als sechs Jahrzehnten, gemeinsam mit regionalen Verbündeten. Die Königsmacher unter den Provinzfürsten kennen oft keine Skrupel. Sie stützen den Kongress und füllen sich im Gegenzug die Taschen. Diese korrupten Exzesse schmälern jetzt die Chancen der Kongresspartei.

Günstlingswirtschaft und Armutsbekämpfungsprogramme

Aber die Schwäche der Gandhi-Dynastie, deren jüngster Spross Rahul schwer zu kämpfen hat, lässt sich damit alleine nicht erklären. Ursache der Krise sind die sozialen Umbrüche, die auch in einer so fest gefügten Gesellschaft wie der indischen nun Wirkung entfalten. Die Netzwerke der Patronage sichern den Politikern nicht mehr automatisch die Macht. Früher war es den Eliten möglich, die unteren Schichten mit Armutsbekämpfungsprogrammen an sich zu binden, die sich nicht selten in Almosen erschöpften. Dies war der Deal, der den Massen das Überleben sicherte - und dem politischen Establishment die Macht. Die politische Ordnung Indiens spiegelte so auch die sozialen Verhältnisse wider, in denen jeder seinen festen Platz hatte, auch wenn das Kastensystem offiziell abgeschafft ist.

Je mehr sich aber die Gesellschaft modernisiert, je stärker sie äußeren Einflüssen ausgesetzt ist, je mehr Inder in Städten groß werden und je öfter neue Medien die Erfahrungshorizonte verschieben, desto stärker bröckelt dieses stabile Gebäude. Eine Sehnsucht greift um sich, auch in Indien. Viele wollen den Aufstieg schaffen, aus eigener Kraft. Sie sehen bei anderen, dass das möglich ist. So wachsen Zweifel an einer Welt, in der die Rolle jedes Einzelnen durch Name und Geburt vorgezeichnet ist.

Sehnsucht nach Wandel

Ein dynastisches System, wie es die Nehru-Gandhi-Familie verkörpert, passt nicht mehr in diese Zeit. Es müsste sich wandeln. Aber damit würde sich die Dynastie selbst politisch entmündigen. In diesem Widerspruch liegt ihr strategisches Problem. Auch im Parlament spielen Politikerfamilien eine große Rolle, sie werden nicht über Nacht alle Macht verlieren. Aber ihnen erwächst Konkurrenz.

Die Sehnsucht nach Wandel ist überall spürbar. Doch der Umbruch steckt voller Risiken. Wenn die Regierenden es nicht schaffen, die armen Massen mitzunehmen, wenn diese abgehängt werden auf einem allzu liberalen Wirtschaftskurs, wird es ihnen schlechter gehen als bisher.

Den Aufbruch verkörpert für viele der Hindu-Nationalist Narendra Modi. Er ist Favorit. Aber kann ihm gelingen, was von ihm erwartet wird? Modi gibt sich als Kraftprotz, seine Tatkraft könnte sich jedoch schnell erschöpfen, wenn er, wie bislang die Kongresspartei, gezwungen ist, auf zahlreiche Koalitionäre Rücksicht zu nehmen. Er müsste schon einen sagenhaften Sieg hinlegen, um alles anpacken zu können, was er vollmundig verspricht.

Vielleicht noch wichtiger ist die Sorge um den inneren Frieden, die Modi wachruft. Welche Folgen wird es haben, wenn ein Hindu-Nationalist den Pfad der säkularen Politik verlässt, um unter einem religiös-kulturellen Banner Gefolgschaft einzufordern? Die Minderheiten, allen voran die Muslime, sind verängstigt.

Über Modi hängt der Schatten der religiösen Unruhen von Gujarat, die 2002 mehr als 1000 Tote forderten. Die meisten Opfer waren Muslime. Modi regierte damals den Bundesstaat (und tut das bis heute). Strafrechtlich hat ihm die Justiz keine Schuld nachgewiesen. Dennoch weckt der Exzess Zweifel, ob Modi geeignet ist, ein Land zu führen, in dem Konflikte zwischen Hindus und Muslimen so leicht entflammbar sind.

Sollte Modi gewinnen, muss er die Skeptiker eines Besseren belehren. Dazu gehört, auf die Minderheiten zuzugehen. Wer immer Indien regiert, wird den Subkontinent nur voranbringen, wenn er sein Land eint, anstatt es zu spalten. Ohne inneren Frieden gibt es keinen Aufbruch.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: