Erfurt (dpa/th) - Ein Jahr nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten mit Hilfe von AfD-Stimmen zeichnen sich in Thüringen nach einer Umfrage erneut komplizierte Mehrheitsverhältnisse ab. Demnach hätte eine rot-rot-grüne Koalition weiterhin keine Mehrheit im Parlament, wie aus einer am Donnerstag veröffentlichten Insa-Umfrage im Auftrag der „Thüringer Allgemeinen“ hervorgeht. Auch andere politisch nicht ausgeschlossene Bündnisse hätten keine Mehrheit.
Laut der repräsentativen Erhebung käme die Linkspartei wie bei der Wahl im Oktober 2019 auf 31 Prozent. Das bedeutet im Vergleich zur letzten Insa-Erhebung im November 2020 einen Rückgang um zwei Prozentpunkte. Die Grünen dagegen liegen in einer Umfrage mit acht Prozent (plus zwei Punkte im Vergleich zu letzten Umfrage) diesmal vor der SPD, die auf sieben Prozent (minus drei Punkte) abrutscht. Zusammen erreichen die Koalitionäre damit 46 Prozent der Stimmen. Weil auch die FDP mit sechs Prozent (plus einem Punkt) nach der Umfrage wieder in den Landtag einziehen würde, hätte Rot-Rot-Grün keine Mehrheit.
Die bisherigen Oppositionsfraktionen AfD, CDU und FDP kämen zusammen auf 51 Prozent. Dabei verbessert sich die AfD leicht auf 23 Prozent, während die CDU stabil bei 22 Prozent steht. Die Landtagswahl soll nach bisherigen Plänen parallel zur Bundestagswahl am 26. September stattfinden. Vorher muss aber der Thüringer Landtag aufgelöst und damit die Neuwahl eingeleitet werden.
Die Mehrheitsbildung wäre nach den aktuellen Umfrage-Ergebnissen schwierig, weil CDU und FDP eine Koalition mit der Linken sowie jede Zusammenarbeit mit der AfD ablehnen. Selbst ein Viererbündnis aus Union, Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen kommt laut Umfrage zusammen nur auf 43 Prozent.
Die Situation würde damit jener gleichen, die die Parteien nach der Landtagswahl im Herbst 2019 vorfanden. Das Dilemma fehlender Mehrheiten gilt als einer der Gründe, wie es zur Wahl Kemmerichs am 5. Februar 2020 kam. Es war das erste Mal in Deutschland, dass die AfD einem Politiker zu einem solchen Amt verhalf. Sie hatte dabei mit einem Kniff gearbeitet: Sie stellte einen eigenen Scheinkandidaten auf und ließ ihn im dritten Wahlgang mit null Stimmen zurück. Möglich wurde Kemmerichs Wahl auch, weil viele CDU-Abgeordnete für ihn votierten.
Die Linke-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow forderte mit Blick auf den Jahrestag die CDU auf, die „Brandmauer zur AfD“ zu verteidigen. „Heute wissen wir, es geht um Haltung. Das ist eine Anforderung an uns selbst. Aber es ist vor allem eine Forderung an die CDU“, erklärte Hennig-Wellsow. Sie sprach mit Blick auf das Ereignis von einer „politischen Schande“. Dabei hob sie das Engagement der Menschen hervor, die damals gegen Kemmerichs Wahl auf die Straße gingen und protestierten.
Die Chefin der Bundes-Linken, Katja Kipping, erklärte, Kemmerich sei nicht aufgrund einer späten Einsicht oder Reue zurückgetreten, sondern es habe daran gelegen, „dass viele Tausende Menschen in Thüringen und im ganzen Land auf die Straße gegangen sind“. Die Brandmauer zur AfD, von der auch Kipping sprach, werde nicht von der AfD selbst eingerissen, sondern von Politikern, die über eine Öffnung zur AfD ihre eigne Machtposition stärken wöllten. „Solchen Versuchen müssen wir uns klar entgegenstellen“, forderte sie.
Thüringens Grünen-Fraktionschefin Astrid Rothe-Beinlich erklärte, es sei dem massiven Protesten aus Politik, Zivilgesellschaft und Medien zu verdanken, dass Kemmerich dieses Amt nach wenigen Tagen wieder aufgab. „Die Gefahr einer Kooperation zwischen CDU und AfD ist seither nicht geringer geworden. Aus vielen Kommunalparlamenten sind Fälle von gemeinsamen Anträgen bekannt“, erklärte Rothe-Beinlich. In den Reihen der Thüringer CDU-Fraktion hatte es in der Vergangenheit immer wieder Vorstöße gegeben, auch Gespräche mit der AfD über mögliche Kooperationen zu ermöglichen. CDU-Fraktionschef Mario Voigt lehnt solche Gedankenspiele dagegen seit Jahren entschieden ab.
SPD-Fraktionschef Matthias Hey warf CDU und FDP vor, „fahrlässig eine Regierung in Kauf genommen“ zu haben, die auf Stimmen der AfD angewiesen sei. „Verächter der Demokratie hätten dann die Politik des Landes mitbestimmt“, erklärte Hey. „Das politische Thüringen ist bis heute weltweit ein trauriges Paradebeispiel dafür geworden, dass hier im Parlament Leute sitzen, denen das Land völlig egal war.“
AfD-Landespartei- und Fraktionschef Björn Höcke verteidigte erneut das Vorgehen seiner Fraktion vor einem Jahr. „Am 5. Februar 2020 haben wir als AfD-Fraktion unser zentrales Wahlversprechen eingelöst und Herrn Ramelow abgewählt“, erklärte Höcke am Donnerstag. Damit habe seine Fraktion ihre Pflicht getan. Einen Tag zuvor hatte er sein Angebot einer Zusammenarbeit von CDU und AfD öffentlich erneuert. Höcke gilt als Rechtsaußen in der AfD und wurde vom Bundesverfassungsschutz als rechtsextreme Führungsperson eingestuft.
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