Ungarn hat ein neues Lieblingsspiel, aber lustig ist es nicht: das Niedermachen der Opposition. Auf Fotos von Wahl-Veranstaltungen mit Premier Viktor Orbán wird ein unüberschaubares Menschenmeer gezeigt, das an den Rändern über das Bild hinausquillt - und dann ist da eine kleine Ecke des Fotos übermalt. Schaut her, soll das heißen: Nur so viele Menschen, wie in dieses Eck passen würden, hat die Opposition mobilisiert. Ein trauriger Haufen, oder?
In den Vorberichten zur Wahl an diesem Sonntag heißt es auch gern, Orbán halte regelmäßig Messen ab. Die Opposition hingegen Gruppentherapiesitzungen.
Das Phänomen des nationalkonservativen Populismus, der in Ungarn triumphiert, ist nicht neu in Mittelosteuropa. Polen mit den Brüdern Kaczynski etwa, die Slowakei mit Robert Fico oder Tschechien mit Václav Klaus durchliefen schon früher als die Ungarn, Mitte der Nullerjahre, eine Phase der Rückbesinnung auf das Nationale, Antiliberale. Es sollte als Mittel gegen das Gift der Verunsicherung, der irren gesellschaftlichen Gegensätze und der ökonomischen Instabilität dienen.
Fast alle neuen Länder der Europäischen Union, die diese Phase der Desorientierung - spätestens mit dem Beginn der internationalen Finanzkrise - durchlitten, entschieden sich dann jedoch für den rationalen Kurs der Konsolidierung, in Kooperation mit den europäischen Partnern und, wo nötig, internationalen Geldgebern. Rosskur statt Aufruhr, Europäisierung statt Radikalisierung.
Die Regierung war mal rechts, mal links
Auch Ungarn ist, wie alle Staaten aus der Restmasse des postsowjetischen Imperiums, durch einen langen Transitionsprozess gegangen - eleganter und leichter jedoch, wie es zuerst schien, als weniger westerfahrene Länder des Ostens. Die kommunistischen Eliten wurden integriert, die Regierung war mal rechts, mal links.
Doch der Preis war hoch. Die Elite schnitt sich über informelle Absprachen in der neuen Welt des globalisierten Neoliberalismus ein großes Stück vom Kuchen ab und häufte Privilegien an. Gleichzeitig schrieb sie über den absurd aufgeblähten Staatshaushalt unbezahlbare Sozialleistungen fort, um einen brüchigen Frieden zu bewahren. Das konnte nicht gutgehen.
Spannender als die historisch geborene Schwäche seiner Gegner ist aber die Frage, was Orbán seither so überzeugend anders gemacht hat, dass die Wähler kaum eine Alternative zu seinem nationalistischen und populistischen Kurs sehen.
Orbán setzt auf eine ideologische Klammer für sein Orientierung suchendes, tief zerstrittenes Volk, die nicht nur Ungarn, sondern auch ihm selbst langfristig nutzt: Familie, Heim, Glaube, Ordnung, Nation. Dass er so das Land befriedet und saniert, ist eher unwahrscheinlich. Aber er hat mit dem radikalen Austausch der Eliten, der Zentralisierung von Macht und der Ausrufung einer permanenten Revolution theoretisch die Grundlagen für eine dauerhafte Einparteien-Regierung geschaffen. Wer nicht für ihn ist, der ist gegen ihn und damit gegen Ungarn; der politische Gegner wird so dämonisiert oder ignoriert.
Der Ungar klingt dabei wie Wladimir Putin: Wir waren mal groß, wir werden wieder groß sein. Wir sind unverstanden, aber im Recht. Demonstrativ hat Budapest zuletzt auch eine Ostöffnung propagiert und die Nähe zu Putins Russland gesucht. Von dort kommen Atomkraft und Geld, aber praktischerweise keine Kritik.
Ungarn ist zwar einer der größten Netto-Empfänger der EU, aber die europäischen Partner werden als "Bürokraten des Imperiums" und Handlanger internationaler Finanzmärkte beschimpft. Multinationale Konzerne sollen zwar Arbeitsplätze bringen, "attackieren aber ungarische Familien und schleppen Extraprofite außer Landes". International bringt das Ärger und Proteste. Na und? Daheim steigen die Umfragewerte.
Der Premier wird deshalb als Populist bezeichnet. Doch er ist ein Populist neuen Typs - genauso wie zum Beispiel der neue serbische Regierungschef, der Nationalist Alexander Vučić: Europa ja bitte, wenn es Vorteile bietet, aber unsere große, stolze Nation zuerst.
Beider Ideologie basiert auf dem Konzept, dass es ein homogenes Volk gibt, das einen auf das wahre Gemeinwohl ausgerichteten Willen hat und nur einen authentischen Repräsentanten braucht, der diesen Willen umsetzen kann. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller verweist in seiner "politischen Theorie des Populismus" auf Männer wie Orbán. Müller zeigt, wie dieser neue Populismus überall in Europa funktioniert, der sich nicht etwa an Modernisierungsverlierer, sondern an Aufsteiger richtet: Politisch legitim ist nur, was ins moralische Konzept passt. Der charismatische Führer inszeniert sich als der Mann, der weiß, was das Volk braucht. Wer anderer Meinung ist, ist eben nicht "das Volk".
Hier lauert eine Gefahr, die auch bei den Wahlen zum EU-Parlament von starken antieuropäischen Kräften etwa aus Österreich, Frankreich, Holland, Ungarn droht. Diese Gefahr kommt von Populisten, die behaupten, sie sprächen für das Volk, das in der EU nicht gehört werde; und für die Nationen, die ausgeblutet, ausgebeutet, kleingehalten würden. So simpel, und so verlogen.
Opposition kommt nicht gegen pathetischen Rausch an
Gegen diese Strategie hat es die Opposition schwer, besonders in Ungarn. Denn wenn der rechtskonservative Regierungschef in den vergangenen vier Jahren eines geschafft hat, dann das: Seine Gegner sind mutlos geworden. Deprimiert. Die Regierungspartei Fidesz mästet sich an den Trögen der Macht und dankt ihrem Anführer Orbán für das Gefühl, sie repräsentiere das wahre, neue Ungarn. Die marginalisierte Linke ist traumatisiert von der "nationalen Revolution", die mit der Zweidrittelmehrheit von Fidesz über das Land gekommen ist wie ein Orkan. Sie lässt jene Politiker, die mehr Pluralismus, mehr Rechtssicherheit, mehr Gewaltenteilung, mehr Europa forderten, vielleicht als bessere Demokraten erscheinen, aber - in der Diktion Orbáns - als schlechtere Ungarn. Da ist eine Gruppentherapie vielleicht nötiger als ein Wahlsieg.
Und was sollte das linksliberalgrüne Bündnis "Regierungswechsel" auch mit einem Wahlsieg anfangen, wenn er sich denn wundersamerweise und gegen alle Vorhersagen einstellte? Regieren etwa?
Das wäre schon allein technisch schwierig. Denn viele wichtige Posten sind über die nächste Legislatur hinaus besetzt, viele Gesetze so verfasst, dass sie nur mit einer Zweidrittelmehrheit zu ändern wären. Die Opposition hat bis heute kein Mittel gefunden gegen den pathetischen Rausch aus nationalen Symbolen und einer explizit antiintellektuellen, auf Kleinbürger und den heimischen Mittelstand ausgerichteten Politik, die politische Teilhabe durch Geldgeschenke und geballte Autorität ersetzt.