Wahlen in Italien:"Das Land ist verzweifelt"

Der Politikwissenschaftler Alexander Grasse über Berlusconi als Gefahr für den inneren Frieden, Veltronis Fehler im Wahlkampf und warum Europa Grund zur Sorge hat.

Birgit Kruse

sueddeutsche.de: Zum dritten Mal wird Silvio Berlusconi Regierungschef in Rom - und das, obwohl das Land mit ihm bereits mehrfach schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ist Italien verzweifelt?

Silvio Berlusconi

Silvio Berlusconi hat es wieder einmal geschafft: Zum dritten Mal haben die Italiener den Medienmogul gewählt.

(Foto: Foto: AP)

Alexander Grasse: In der Tat: Das Land ist verzweifelt angesichts der schlechten Wirtschaftslage und der enttäuschenden Politik der Mitte-Links-Regierung. Deshalb sucht eine Mehrheit nun das Heil in der Rückkehr des "Systems Berlusconi". Das System Berlusconi ist etwas Spezifisches, gerade weil viele Schichten von diesem System profitieren. Dieses System zeichnet sich durch seine Verteilungspolitik in Form von Privilegien aus, manche sprechen gar von Selbstbedienung.

sueddeutsche.de: Wer wird begünstigt?

Grasse: Von Berlusconi profitieren vor allem die politisch-administrative Klasse, aber auch eine ganze Reihe von Personen, die an einem System der Vergünstigungen teilhat, das vom öffentlichen Dienst bis hin zu einer großen Zahl an Selbständigen reicht, die in Italien im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoch ist

sueddeutsche.de: Dennoch: Die Stimmung in Italien ist schlecht. Das Land steht vor einer Rezession, das Einkommen vieler Bürger reicht kaum noch zum Leben und im Süden herrscht die Mafia. Warum soll es gerade Berlusconi gelingen, diese Probleme in den Griff zu bekommen? An Wahlversprechen hat er sich früher ja auch nicht gebunden gefühlt.

Grasse: In der Tat: Die Bilanz der Regierung Berlusconi zwischen 2001 und 2006 ist die schlechteste, die Italien seit 1992 erlebt hat. Die Steuern sind entgegen der Wahlversprechen in dieser Zeit um ein Prozent gestiegen. Die Schere zwischen Arm und Reich ist weiter auseinander gegangen. Allerdings haben die Wähler immer noch die verzweifelte Hoffnung, Berlusconi könnte das Ruder für Italien rumreißen.

sueddeutsche.de: Wie erklären Sie sich das?

Grasse: Ganz einfach. Die Wahlalternativen waren so schlecht: Prodi hat nicht gesehen, dass eine konsequente Wirtschaftspolitik notwendig gewesen wäre, und zwar im Sinne einer Ankurbelung der Binnennachfrage und der Schaffung besserer Lebensbedingungen für die unteren Einkommensschichten. Und die Erwartungen der Linken waren sehr hoch, dass sich in punkto sozialer Gerechtigkeit etwas tut. Stattdessen hat Prodi eine Politik der winzigen Schritte betrieben. Seine Politik war zum Schluss bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.

Auf der anderen Seite hat man unterschätzt, dass die Wähler der Miniparteien überdrüssig waren. Die Politik hängt hier wirtschaftlich und auch in Bezug auf taktische und strategische Entscheidungen zwischen den Parteien hinter der realen Entwicklung des Landes zurück. Das hat gravierende Folgen.

sueddeutsche.de: Wieso?

Grasse: Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass es in Italien bei den Wahlen politisch einen Rechtsruck gegeben hat. Das zeigt sich schon daran, dass in dem neuen Bündnis von Berlusconi die christdemokratischen Zentristen nicht mehr vertreten sind. Sie waren 2001 bis 2006 vor allem in Bürgerrechts- und Verfassungsfragen ein Korrektiv.

Das fehlt jetzt. Berlusconi hat nur noch im Senat etwas von der Lega Nord zu befürchten. Sie könnte ihn künftig politisch erpressen. Denn ohne die Stimmen der Lega Nord hat Berlusconi keine Mehrheit im Senat. Bossi von der Lega Nord hat gestern bereits angekündigt, der Steuerföderalismus müsse jetzt endlich durchgesetzt werden. Und das heißt: Verteilungskonflikte auf regionaler Ebene und zwischen Nord und Süd.

Lesen Sie, ob Berlusconi die Legislaturperiode überstehen wird und warum Walter Veltroni die Wahl nicht gewinnen konnte.

"Das Land ist verzweifelt"

sueddeutsche.de: Wird die Regierung Berlusconi die Legislaturperiode unter diesen Voraussetzungen überhaupt überstehen?

Grasse: Sie hat reelle Chancen. Im Gegensatz zu Prodi hat Berlusconi im Grunde nur noch zwei Koalitionspartner. Denn die Partei Volk der Freiheiten ist ja eine Zusammensetzung aus Nationaler Allianz und Forza Italia. Und dann gibt es noch die Lega Nord und die Autonomiebewegung in Sizilien. Er selbst hat also eine äußerst stabile Mehrheit, auch wenn er sich daran orientieren muss, was die Lega Nord will. Innerhalb der Koalition ist also sehr viel Spannung. Die Wähler aus dem Süden erwarten von der Politik doch ganz andere Entscheidungen als die im Norden.

sueddeutsche.de: Stehen die Zeichen nicht eher auf Stillstand? Berlusconi ist ja nicht gerade der große Reformer.

Grasse: Nein, das ist er wirklich nicht. Und auch sein jüngster Vorschlag, eine Reformkommission aus Mitgliedern beider Kammern zu gründen, um Verfassungsreformen anzugehen, ist alt. Den gab es schon vor zehn Jahren. Damals ist diese Kommission (Bicamerale) an Berlusconis Veto gescheitert. Von daher ist dieser Vorschlag möglicherweise ein reines Lippenbekenntnis.

sueddeutsche.de: Dennoch gibt sich Berlusconi diesmal wesentlich konzilianter als noch in seinen vergangenen Amtszeiten.

Grasse: Das stimmt. In Bezug auf die Verfassungsreformen hat er ja auch schon die angesprochene parlamentarische Zusammenarbeit in Aussicht gestellt. Auf der anderen Seite könnte er aber versucht sein, gegen die Gewerkschaften, die zahlreichen linken sozialen Gruppen und damit gegen breite gesellschaftliche Interessen "durchregieren" zu wollen. Das wäre die Fortsetzung des sehr konfrontativern Kurses, den wir bereits kennen. Ich bin sehr skeptisch, dass sich Berlusconi wirklich in seinem politischen Stil ändert.

sueddeutsche.de: Warum haben sich die Wähler dann nicht für Walter Veltroni entschieden? Auch er hat wirtschaftsfreundliche und soziale Reformen versprochen.

Grasse: Ja, aber das Wahlprogramm unterscheidet sich in wesentlichen Punkten kaum von Berlusconis Programm. Veltroni hat eine "Politik der neuen Mitte" favorisiert, die sich an der Sozialdemokratie von Gerhard Schröder beziehungsweise Tony Blairs New Labour orientiert - so eine Art neuer dritter Weg. Und genau daran ist er letztlich gescheitert. Die Mitte konnte Veltroni damit ebenso wenig erreichen wie die ganz Linken. Seine Politik der neuen Mitte könnte also bereits jetzt gescheitert sein.

Lesen Sie, wann der innere Frieden in Italien in Gefahr sein könnte und warum Europa Italien besonders gut im Blick haben sollte.

"Das Land ist verzweifelt"

Silvio Berlusconi

2003 sorgte Berlusconi in Brüssel für einen Eklat: Er empfahl Martin Schulz, Fraktionschef der Sozialdemokratischen Partei Europas im EU-Parlament, als Idealbesetzung für den Kapo in einem KZ-Film.

(Foto: Foto: Reuters)

seuddeutsche.de: Wundert es da noch, dass fast ein Drittel der Italiener nicht mehr an die Demokratie glauben?

Grasse: Es ist tatsächlich so, dass die Italiener politikmüde sind. Ich würde das aber nicht so sehr auf die Demokratie an sich zurückführen, sondern auf die Demokratie italienischer Prägung auf nationaler Ebene. Denn die Wahlbeteiligung von rund 80 Prozent ist nicht viel geringer als vor zwei Jahren. Und wenn man auf die regionale und kommunale Ebene schaut, findet man überhaupt keine Politikverdrossenheit.

Im Gegenteil: Hier ist das Engagement der Wähler besonders hoch. Genau darin liegt jetzt auch eine große Gefahr. Eine stark rechtsorientierte Regierung Berlusconi könnte gerade hier viel zerstören und viele linke Wähler, deren Parteien erstmals nicht im Parlament vertreten sind, massiv gegen sich und seine Politik aufbringen. Die Tatsache, dass es nun in Italien keine parlamentarische Linke mehr gibt, in einem Land, in dem die Kommunisten jahrzehntelang ein Drittel der Wählerstimmen bekamen, ist ein historisches Ereignis, ein Ereignis das sich nicht positiv auswirken dürfte.

sueddeutsche.de: Wie ist das zu verstehen?

Grasse: Wenn er seinen Interessenkonflikt nicht begrenzt, Verfassung und parlamentarische Demokratie schrittweise aushöhlt, gegen die Justiz agiert und gegen die außerparlamentarische Linke massiv vorgehen sollte, dann könnte der innere Frieden im Land in Gefahr sein. Es ist zu befürchten, dass es Aufruhr, Proteste oder Großdemonstrationen geben wird - im schlimmsten Fall, so hat der ehemalige Staatspräsident Cossiga bereits zu bedenken gegeben, könnte es zu einem neuen Linksterrorismus kommen.

sueddeutsche.de: Worauf müssen sich Deutschland und die EU mit einem Regierungschef Berlusconi einstellen?

Grasse: Berlusconi sagt, er wolle außenpolitisch anders agieren als in seiner letzten Amtszeit. Ich bin auch da skeptisch. Europa ist jetzt aufgefordert, genau hinzusehen, was sich in Italien ereignet. In seiner Europapolitik halte ich Berlusconi für wenig kalkulierbar. Allein dieser Umstand ist für die EU schlecht. Denn Italien hat neben dem Tandem Deutschland und Frankreich immer eine wichtige Rolle gespielt, um die europäische Integration voranzubringen. Zerschlagenes Porzellan, das Prodi mühevoll wieder gekittet hat, könnte nun erneut zu Bruch gehen. Außerdem hängt viel von den Wahlen in den USA ab. Sollten die Republikaner gewinnen, könnte Berlusconi wieder die transatlantische Annäherung suchen und sich von Europa entfernen.

Alexander Grasse ist Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Davor lehrte und forschte er an den Universitäten Mailand, Padua und Bologna. Grasse hat zahlreiche Veröffentlichungen zum politischen System Italiens publiziert und ist Clemens-Brentano-Preisträger 2007 des Deutsch-Italienisches Hochschulzentrum/DIH.

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