Wahlen in Großbritannien:Britische Übel

Begrenzte Genießbarkeit: Die Briten haben Gordon Browns Labour-Regierung satt, doch ein Sieg der Tories ist keinesfalls sicher.

W. Koydl

Eines wissen die Briten jetzt genau: an welchem Tag sie das nächste Unterhaus wählen werden. Premierminister Gordon Brown beendete Wochen quälenden Wartens und wilder Spekulationen, als er am Dienstag die kurze Strecke von Downing Street zum Buckingham-Palast hinüberfuhr und die Königin darum bat, das Parlament aufzulösen. Am 6. Mai, in genau einem Monat, wird Britannien nun zu den Urnen gehen - und für die meisten Wähler kommt dieser Termin keinen Tag zu früh.

Damit enden freilich auch schon die Gewissheiten. Denn der Ausgang der Wahl ist ebenso offen wie die Absichten der Wähler. Selten waren Umfragen so schwankend und so uneinheitlich. Je nach Institut und Wochentag kann man sich so gut wie jedes Resultat aussuchen: von einem knappen Sieg der regierenden Labour-Partei über ein Patt der Sitze bis hin zu einem soliden Gewinn der oppositionellen Konservativen scheint alles möglich zu sein.

Diese Unsicherheit liegt darin begründet, dass keine der Parteien, die antritt, bei den Wählern auch nur annähernd so etwas wie Begeisterung auslöst. Im Gegenteil: Die Briten befinden sich in der Lage von Kunden im Supermarkt, die im Milchregal die Wahl haben zwischen Vollmilch, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, und magerer Soja-Milch, die sie vor Jahren einmal probiert hatten und die ihnen damals nicht so recht gemundet hatte. Was sonst noch an Flaschen herumsteht, kommt mit merkwürdigen Geschmackszusätzen daher, für die sich nur Minderheiten erwärmen.

Regierungen haben mit leicht verderblichen Lebensmitteln gemein, dass auch ihre Genießbarkeit begrenzt ist. Labour unter Gordon Brown hat nach 13 Jahren im Amt diesen Punkt eindeutig erreicht. Die Partei ist müde und verbraucht, die revolutionäre Aufbruchstimmung, die damals einen jugendlichen Tony Blair an die Macht brachte, ist längst verpufft.

Der Versuch, mit dem Wechsel von Blair zu Brown vor drei Jahren den Eindruck eines Neuanfangs zu inszenieren, ist gescheitert. Der neue Premier war eben auch schon von Anfang an dabei und ist ein bekanntes Gesicht. Die Aussicht, dass Brown und seine matte Truppe weitere fünf Jahre im Amt bleiben könnten, entlockt denn auch manchem Labour-Sympathisanten ein gequältes Stöhnen.

Rezession als einzige Gewissheit

Der Überdruss an Labour freilich setzt sich nicht automatisch in breite Zustimmung für die Tories um. Ihr Führer David Cameron hat sich zwar bemüht, die Partei vom Erbe der Thatcher-Jahre zu dekontaminieren und in die politische Mitte zu führen.

Dennoch schlagen ihm und seinem Team Vorurteile und Argwohn entgegen. Wie sehr hat sich die Partei tatsächlich gewandelt? Wofür steht sie wirklich? Zudem erscheinen die Konservativen als unerfahren. Soll man ihnen ausgerechnet im Angesicht einer schweren Wirtschaftskrise das Land anvertrauen?

Die Rezession ist vielleicht die einzige Gewissheit - außer dem Wahltag selbst -, auf die sich die Briten verlassen können. Vor allem die Verschuldung ist horrend: Mit 178 Milliarden Pfund ist das Haushaltsdefizit, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, so hoch wie in keinem anderen G-7-Staat. Zweieinhalb Millionen Briten sind arbeitslos, das Pfund hat binnen zwei Jahren ein Viertel seines Wertes verloren, und das Loch in der Außenhandelsbilanz wird immer größer. Der Crash der Finanzbranche in der Londoner City hat die unangenehme Wahrheit offenbart, dass das Königreich außer Finanzderivaten eben nicht vieles produziert, was sich in anderen Ländern verkaufen ließe.

Lesen Sie weiter, warum die Briten ihrer politischen Klasse gegenüber Zorn und Verachtung empfinden.

Bittere Medizin

Auch wenn sie es sich vielleicht nicht eingestehen wollen, so wissen die Briten doch ziemlich genau, dass harte Zeiten auf sie zukommen werden - egal, wer am 7. Mai im Buckingham-Palast die Hand der Queen küssen und den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten wird. Vor allem die kritische Haushaltslage engt den Spielraum jedes Premiers ein. Er hat ohnehin nur eine Möglichkeit: Er muss die Einnahmen erhöhen und die Ausgaben senken. Anders ausgedrückt: Der Bürger wird auf Jahre hinaus mehr Steuern für immer schlechtere staatliche Leistungen zahlen. Labour und Tories mögen diese Medizin zwar unterschiedlich mischen. Bitter bleibt sie in jedem Fall.

Kleine Parteien hoffen

Zu Überdruss und Unsicherheit gesellen sich freilich auch Zorn und Verachtung für die politische Klasse. Enthüllungen über die Bereicherungsmentalität ihrer Abgeordneten, die sich von der Ikea-Plastiktüte bis zum Wassergraben rings um den Zweitwohnsitz so ziemlich alles vom Steuerzahler erstatten ließen, haben das Vertrauen der Wähler in das Parlament nachhaltig erschüttert. Und als nun auch noch bekannt wurde, dass Ex-Minister Lobbyisten-Dienste an Meistbietende verhökerten, bestätigte dies nur den schlechten Eindruck - und gab kleineren Parteien Auftrieb, die hoffen, vom Politikverdruss zu profitieren.

Sie freilich werden wohl enttäuscht werden, ebenso wie die Beobachter, die ein Patt im Unterhaus vorhersagen. Die Briten mögen zwar für ihr Leben gern murren, maulen und mosern. Am Ende aber wollen sie klare Verhältnisse und deutliche Mehrheiten. Die wird denn vermutlich auch die nächste Regierung haben, und die Chancen sind gut, dass sie von den Konservativen gestellt wird.

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