In Europa geht kein Gespenst mehr um. Der Spuk vom drohenden Wahlsieg des Front National (FN) bei den französischen Präsidentschaftswahlen - er ist vorbei, ganz plötzlich. Emmanuel Macron, der Hoffnungsträger des Kontinents, wird's schon schaukeln. Seit dem Sieg des 39-jährigen Sozialliberalen im ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag scheint alles wieder gut zu sein: Paris brennt nicht, die Aktienkurse steigen, Europa lebt. Und Macron formte Mittel- und Zeigefinger zum V - Victoire!
Ist wirklich alles entschieden? Von wegen. Wer das glaubt, unterschätzt Marine Le Pen, die begnadete Populistin. Ihr Talent bewies sie diese Woche, als sie bei streikenden Fabrikarbeitern auftauchte, die gegen die Verlagerung ihrer 300 Jobs nach Polen protestierten. Le Pen hatte den Verzweifelten nichts zu bieten - nur eine Viertelstunde hohler Sprüche und Selfies. Dafür bekam sie aber, was sie wollte: Schnappschüsse als angebliche Jeanne d'Arc der Globalisierungsopfer. Macron hingegen, der Vertreter eines offenen Frankreichs, erntete an selber Stelle Pfiffe. Der Ex-Minister stellte sich der Wut, versprach Umschulung, sucht nun Investoren. Er hatte die besseren Argumente, aber miese Fernsehbilder. Vernunft allein entscheidet keine Wahl.
Le Pen erreicht in dieser Kampagne, wovon sie immer träumte: die endgültige Banalisierung ihrer rechtsextremen Partei. Trotz Hetze gegen Migranten, Muslime und Europa: Im Fernsehen, in der öffentlichen Wahrnehmung ist sie Gleiche unter Gleichen geworden.
Zu dieser "Normalisierung" kommt der Gleichmut vieler Demokraten. Vor 15 Jahren, als Vater Jean-Marie Le Pen mit in die Stichwahl kam, protestierten Millionen gegen die Gefahr für die V. Republik. Heute? Einige Hundert junge Demonstranten, die Macron und Le Pen gleichsetzen und Slogans brüllen wie "Ni patrie, ni patron" - weder Vaterland noch Bosse. Es ist ohrenbetäubend, wie kleinlaut konservative Republikaner zu Macrons Wahl aufrufen. Wenn überhaupt. Die radikale Linke schweigt: Jean-Luc Mélenchon, Anführer des "unbeugsamen Frankreich", mag seinen sieben Millionen Wählern nicht empfehlen, für den "ultraliberalen Ex-Minister von Monsieur Hollande" zu votieren.
51 Prozent reichen nicht, um einen Neuanfang zu schaffen
Der empörte Mélenchon, enttäuschte Republikaner, gebeutelte Sozialisten, keiner will, dass Macron gegen Le Pen verliert. Nur, stärken wollen sie Frankreichs wahrscheinlichen Präsidenten auch nicht. Nicht zu sehr jedenfalls. Die Verlierer schielen bereits hinaus über den 7. Mai, auf den Juni. Da lauert "der dritte Wahlgang": Dann müssen die Franzosen wieder an die Urnen und ihre Nationalversammlung wählen. Dann wollen sie Revanche und neue Rollen: Die Republikaner träumen von der Parlamentsmehrheit, sie möchten - per Cohabitation - mitregieren. Mal mit, mal gegen Macron. Und Mélenchon sieht sich als Tribun einer linken Fundamentalopposition.
Macron muss kämpfen, notfalls allein. Fade 51 Prozent gegen Le Pen würden reichen, die extreme Rechte diesmal zu stoppen. Aber ein Präsident, der das Land erneuern und eine eigene Mehrheit im Parlament will, braucht mehr Rückhalt. Viel mehr. Sonst misslingen Neuanfang und "Revolution", die Macron verheißt. In fünf Jahren stünde Le Pen dann wieder vor den Toren. Stärker denn je.