Wahlen in der Türkei:"Schlimmer als Erdoğan kann keiner sein"

Wahlen in der Türkei - Stimmabgabe in Berlin

Stimmabgabe im türkischen Generalkonsulat in Berlin.

(Foto: dpa)

In Deutschland können türkische Staatsbürger heute noch über den nächsten Präsidenten und das Parlament in der Türkei abstimmen. Sechs von ihnen erklären ihre Wahl.

Protokolle von Hannah Beitzer, Julia Kitzmann und Markus C. Schulte von Drach

Bis Sonntag wählt die Türkei einen Präsidenten. Angetreten sind neben dem Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan von der Regierungspartei AKP vier weitere Kandidaten und eine Kandidatin. In den Umfragen führt Erdoğan mit Abstand vor der Konkurrrenz, doch es dürfte zu einer Stichwahl kommen. Deren Ergebnis könnte für Erdoğan knapp ausfallen, sollte sich die Opposition vereint hinter den zweitplatzierten Kandidaten stellen.

Zugleich wird ein neues Parlament gewählt. In den Umfragen führt das Bündnis der konservativ-islamischen AKP mit der nationalistischen MHP vor den sozialdemokratischen CHP und ihren Verbündeten. Wenn allerdings die prokurdische Partei HDP die Zehn-Prozent-Hürde nimmt, könnte die bisherige Opposition gemeinsam auf ähnlich viele Abgeordnete kommen wie das Bündnis hinter Erdoğan. Wir haben Menschen mit türkischem Pass in Deutschland gefragt, wie sie gewählt haben. Von denen, die uns geantwortet haben, wollten nicht alle unter vollem oder Klarnamen zitiert werden.

Murat Korkmaz, 35, lebt in Wuppertal

Ich habe bei den Wahlen den amtierenden Präsidenten Erdoğan und die AKP gewählt. Die Gründe liegen für mich auf der Hand: Seit seinem Amtsantritt ist die Wirtschaft gewachsen. Er hat den Sozialstaat ausgebaut. Es gibt jetzt zum Beispiel eine funktionierende Krankenversicherung und moderne Krankenhäuser. Ebenso die Infrastruktur: Er hat in Straßen, Brücken, Tunnel und die öffentlichen Verkehrsmittel investiert. Dazu kommen Megaprojekte wie der Kanal İstanbul, der dritte Flughafen und die dritte Brücke. Sogar ein türkisches Auto ist jetzt in der Entwicklung.

Ich bin jedes Jahr in der Türkei und kann nur sagen, dass die Entwicklung unglaublich ist. Vor Erdoğan war Istanbul ein Müllhaufen, weil die Stadt den Abfall nicht abgeholt hat. Aus dem Wasserhahn kam kein Wasser, es musste extra mit Wagen gebracht werden und die Menschen standen Schlange, um Wasser zu bekommen. Der Strom ist öfter ausgefallen. All das ist Geschichte. Eigentlich ist das nur ein Bruchteil von dem, was dieser Mann alles gemacht hat. Aber in Deutschland muss man sich mittlerweile rechtfertigen, warum man ihn wählt, weil die deutsche Politik und die Medien ihn als Monster darstellen.

Die Vorwürfe, er würde die Türkei in eine Diktatur verwandeln, kann ich nicht nachvollziehen. Seit er an der Macht ist, dürfen zum Beispiel die Kurden ihre Muttersprache sprechen, Frauen mit Kopftuch werden nicht mehr diskriminiert. Wenn man in der Türkei regierungskritische Zeitungen lesen will, findet man sie überall. Man kann ebenso Bücher von Oppositionellen überall kaufen.

Sicher, mit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 wurde der Ausnahmezustand erklärt. Es wurden viele Menschen verhaftet, weil sie verdächtigt wurden, der Gülen-Sekte nahezustehen. Zu dieser Zeit hat man die Panik bei der Regierung deutlich gespürt. Ich will nicht ausschließen, dass auch unschuldige Menschen festgenommen wurden. Mein Onkel zum Beispiel wurde zu dieser Zeit ebenfalls festgenommen und nach drei Tagen wieder freigelassen. Dabei ist er AKP-Anhänger, woran man also die panischen Reaktionen leicht erkennen kann. Mittlerweile ist diese Panikhaltung allerdings nicht mehr sichtbar, die Regierung scheint die Lage in der Türkei weitestgehend wieder im Griff zu haben.

Ich mache gerade Urlaub in der Türkei und kann beobachten, dass sowohl Erdoğans AKP als auch die Oppositionsparteien von der CHP bis hin zur İyi-Partei überall Wahlplakate aufgehängt haben. Im Fernsehen werden ihre Wahlkampfveranstaltungen live übertragen. Es finden meiner Meinung nach faire Wahlen statt. Lediglich Selahattin Demirtaş von der HDP ist in Haft. Der wird allerdings mit der PKK in Verbindung gebracht. Der Großteil der Bevölkerung sieht das auch so, aber ich bin mir auch bewusst, dass man das in Deutschland anders sieht. Die Deutschen sind nicht von der PKK betroffen und sehen sie daher weniger kritisch - auch wenn sie offiziell als Terrororganisation eingestuft ist.

Ich stimme nicht aus Überzeugung für İnce

Amir Celik, 36, geboren in Istanbul, seit 2006 in Deutschland

Ich habe Muharrem İnce von der CHP gewählt. Meiner Meinung nach ist er der stärkste Gegner Erdoğans , die anderen Kandidaten werden wahrscheinlich nicht so viele Stimmen kriegen. Wenn man sie wählt, nützt das dann nichts. Ich stimme nicht aus Überzeugung für İnce. Aber ich kenne ihn und seine Aussagen grob, er ist ein ehrlicher Typ. Und schlimmer als Erdoğan kann keiner sein.

Ich habe auch für İnces Partei, die CHP, votiert. Sie ist die größte Oppositionspartei. Die Gründe sind die gleichen: Die CHP ist die einzige Partei, die vielleicht die Mehrheit kriegt oder zumindest die Stimmen der AKP ein bisschen reduziert. Aber meines Erachtens sind die Wahlen nicht so bedeutend. Erdoğan und seine Truppe werden das Ergebnis sicherlich nicht akzeptieren. Natürlich können sie eine klare Niederlage nicht einfach umdrehen, aber sie werden schon ein bisschen was korrigieren.

Die Zukunft sehe ich für mich, die Deutschtürken und für die Türkei insgesamt eher negativ. Viele Deutschtürken, die eigentlich vorhatten, zurück dorthin zu gehen, rücken davon ab. Das hängt vor allem mit der politischen Entwicklung zusammen. Ich selbst würde in der Türkei besser verdienen. Aber es wird unruhiger, als Oppositioneller muss man sich zurückhalten, darf sich nicht frei äußern. Die Denkweise, die Erdoğan in den letzten Jahren implementiert hat, passt nicht zum Verständnis vieler Türken oder Deutschtürken in Deutschland, die sich als moderne Menschen sehen.

Mit den Einschränkungen in der Türkei kann man nicht gut leben. Man kann sie nicht einfach akzeptieren. Wenn Erdoğan nicht mehr da ist, dann schauen wir mal, wie es weitergeht. Aber positiv denken zurzeit sehr wenige Leute. Sogar Erdoğan-Anhänger sehen, dass es in dem Land nicht gut läuft. Auch wenn sie es nicht zugeben. (Amir Celik ist ein Pseudonym.)

"Die Türkei wird dann erst wirklich demokratisch, wenn alle ihre Ethnien, Religionen und Kulturen anerkannt werden"

Kerem Schamberger, 32, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Kommunikationswissenschaften der LMU München

Ich habe einen türkischen Vater und eine deutsche Mutter. Als Deutschtürke oder Türkisch-Deutscher oder was auch immer will ich mich aber nicht definieren. Ich betrachte mich als Menschen, der multiple Identitäten haben kann. Geboren bin ich in München, ich habe aber starke Verbindungen in die Türkei. Der türkische Teil meiner Familie ist viel größer als der deutsche Teil.

Gewählt habe ich die Demokratische Partei der Völker, die HDP, und den Präsidentschaftskandidaten dieser Partei, Selahattin Demirtaş, der seit mehr als eineinhalb Jahren im Gefängnis sitzt. Die HDP wird häufig als Kurdenpartei bezeichnet, ich bin selbst aber kein Kurde. Ich habe die Partei gewählt, weil sie die einzige Partei ist, die für Demokratie steht, die ein Lösungsmodell für die verzwickte Lage in der Türkei hat. Die einzige Partei, die einen wirklichen Frieden will und den Ausgleich zwischen den Menschen in der Türkei: zwischen Türken und Kurden einerseits, aber auch zwischen den Arbeitern, die dort immer noch unterdrückt werden, und den Reichen.

Schon bei der Gründung der Türkei hieß es: Es gibt nur einen Staat, ein Land, eine Fahne, eine Sprache, ein Volk und eine Religion, und das sagt Erdoğan auch immer wieder. Die HDP steht gegen diese Vereinheitlichung. Sie sagt, die Türkei wird dann erst wirklich demokratisch, wenn alle ihre Ethnien, Religionen und Kulturen anerkannt werden. Deshalb habe ich sie gewählt.

Die Wahl ist eine Richtungsentscheidung für die Türkei. Je mehr Menschen gegen Erdoğan und die AKP stimmen und je schwächer diese nach der Wahl sein werden, umso mehr müssen sie andere Stimmen hören. Deshalb versuche ich auch, andere zum Wählen zu mobilisieren.

Aber es ist auch klar, dass Erdoğan und seine Partei nicht durch eine einfache Stimmenabgabe entmachtet werden können. Ich würde bei der Türkei von einer Diktatur sprechen. Um die Verhältnisse zu verändern, sind Demonstrationen notwendig, Proteste, eine Bewegung von unten, von der Straße, nicht nur im Parlament, das sowieso schon entmachtet worden ist.

"Eine gute Alternative zu den etablierten Volksparteien in der Türkei"

Cengiz A., 19

Ich habe - so wie viele andere türkischstämmige Menschen in Deutschland - die doppelte Staatsbürgerschaft und hatte daher die Möglichkeit, in der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahl meine Stimme abzugeben. Mir bedeutet das sehr viel. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist für Menschen wie mich eine große Errungenschaft, weil sie es ermöglicht, eine deutsch-türkische Identität zu entwickeln. Ich war schon am Tag der Eröffnung der Wahllokale im türkischen Konsulat wählen und habe meine beiden Stimmen der kandidierenden Präsidentschaftskandidatin Meral Akşener und ihrer neugegründeten nationalkonservativ-kemalistischen İyi-Partei ("Gute Partei") gegeben.

Ich war lange ein Sympathisant des amtierenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Ich weiß es zu schätzen, dass Erdoğan uns Türken ein neues Selbstbewusstsein gegeben hat und sich das Land durch seine Errungenschaften zu einem führenden Schwellenland entwickelt hat. Es steht ebenso außer Frage, dass Erdoğan nach dem Gründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, der populärste und einflussreichste Politiker der modernen Geschichte des Landes ist. Auch für das Präsidialsystem habe ich mit "Ja" gestimmt, da ich der Meinung bin, dass die Türkei nach 90 Jahren parlamentarischer Demokratie ein neues System braucht.

In letzter Zeit jedoch musste ich feststellen, dass sich die innenpolitische Situation geändert hat. Angesichts der anhaltenden Spannungen mit der Europäischen Union und fehlender Investitionen verliert die türkische Lira immer mehr an Wert. Die Inflation hat ein Zehn-Jahres-Hoch erreicht, der Leitzins beträgt mittlerweile knappe 18 Prozent. Diese Zahlen sind deshalb alarmierend, weil die türkische Wirtschaft importorientiert ist, also ein großes Leistungshandelsdefizit besteht. Damit nicht genug. Im Bildungssystem hat sich unter Erdoğan qualitativ nicht viel geändert, sodass im weltweiten Ranking die Türkei auf Platz 99 steht, sogar noch hinter Pakistan, das auf Platz 94 steht. Mit Zahlen wie diesen kann die Türkei keine starke Regionalmacht sein.

Dazu kommen die vielen syrischen Flüchtlinge, die sich seit Jahren - teils illegal - in der Türkei aufhalten. Antisyrische und antiarabische Ressentiments werden salonfähig, das Stadtbild vieler türkischer Regionen hat sich verändert, sodass viele Türken sich nicht mehr sicher fühlen. Angesichts der Militäroperationen im Norden Syriens erhoffen sich nun viele, dass die Flüchtlinge zurückgeschickt werden. Nichtsdestotrotz bleibt die Situation diesbezüglich sehr angespannt.

Die İyi-Partei ist meiner Meinung nach eine gute Alternative zu den etablierten Volksparteien in der Türkei, weil sie besonders der jüngeren Generationen eine neue Vision anbietet. Zudem wäre eine Frau als Präsidentin nicht nur ein starkes Signal an die islamische Welt, sondern auch an den Westen. Die Wahlen gewinnen wird allerdings wohl Erdoğan. Er ist und bleibt der populärste Politiker der Türkei. Im Parlament jedoch könnte es große Überraschungen geben. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Regierungspartei AKP zusammen mit seinem Bündnispartner, der nationalistischen MHP, die absolute Mehrheit im Parlament verlieren könnte. Das wäre ein Wendepunkt in der türkischen Politik, da Präsident Erdoğan kein einziges Gesetz mehr durchbringen könnte.

Es ist wichtig der AKP zu zeigen, dass die Opposition auch sehr stark ist

Yeliz S., 19, Abiturientin aus Landshut in Niederbayern, per Mail

Ich bin in Landshut geboren und habe türkische Wurzeln. Ich besitze den deutschen und den türkischen Pass und bin in diesem Jahr wählen gegangen. Meine Stimme bekam der Vorsitzende der CHP, Muharrem İnce, da seine Partei meine Meinung über eine moderne Türkei vertritt und ich nichts von Erdoğan halte.

Außerdem finde ich es wichtig, der AKP zu zeigen, dass die Opposition auch sehr stark ist, vor allem in den aktuellen Wahlen. Ich selber fühle mich in Deutschland zu Hause, jedoch liebe ich die Türkei und die Menschen dort. Schade finde ich, dass das Regierungssystem Erdoğans das Land in eine falsche Richtung lenkt. Ich finde es sehr wichtig, dass unser Volk auch die Meinung Türkischstämmiger hört, welche nicht fanatisch für Erdoğan sind.

Osman Y., per E-Mail

Ich habe nicht gewählt, weil ich schließlich mit den Wahlen und ihren Konsequenzen nicht leben muss. Ich finde, dass ich deshalb kein Recht habe, mich einzumischen. Die Türkei ist mein Heimatland und natürlich will ich, dass es im Land vorwärts geht. Aber gerade was innenpolitische Fragen angeht, sollten sich die Türken, die in Deutschland leben, raushalten.

Wir alle wissen, wie politisiert und gespalten die türkische Community hierzulande schon jetzt ist. Vielleicht hilft ein wenig Distanz, dass sich das Verhältnis wieder verbessert.

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