Wahlen in der Türkei:Der selbstherrliche Erdogan

Die Türkei strotzt vor Selbstbewusstsein. Übertroffen wird sie darin nur von einem: ihrem Premier. Erdogan tut gerne so, als habe er genug Reformen vollbracht. Ein Irrtum. Die echte Prüfung steht der türkischen Demokratie noch bevor.

Kai Strittmatter

Als die AKP von Premier Tayyip Erdogan vor neun Jahren die Macht antrat, gab die Türkei ein Bild ab wie Griechenland heute: Die Wirtschaft war ruiniert, die politische Klasse diskreditiert, der Internationale Währungsfonds diktierte die Politik und die Nachbarn ergingen sich in Spott oder Mitleid. Als die AKP und ihre Führer, allesamt fromme Muslime, 2002 gewählt wurden, warnten ihre Gegner, sie würden die Türkei in ein zweites Iran verwandeln. Heute, neun Jahre danach, wächst die türkische Wirtschaft in einem Tempo, das Europa alt aussehen lässt.

Turkey's Prime Minister Tayyip Erdogan is in a campaign event for

Spannend an der Wahl vom Sonntag ist nicht, ob Erdogan gewinnt. Das tut er ohnehin. Spannend ist, ob er in der Türkei eine Zweidrittelmehrheit erhält - und damit eine neue Verfassung im Alleingang schreiben kann.

(Foto: dpa)

Die AKP hat der Türkei eine Stabilität geschenkt, die diese Jahrzehnte nicht kannte, sie hat das Land zum Beitrittskandidaten für die EU gemacht, zu einer Inspiration für die Region und zu einem Akteur in der Welt.

Kein Wunder also, wenn Erdogan am Sonntag seinem dritten Wahlsieg in Folge entgegensehen darf. Und nein, auf dem Weg zum Gottesstaat ist die Türkei noch immer nicht. Das einst so introvertierte Land ist offener, als es je war. Und es ist kein Zufall, dass die Entfesselung der Produktivkräfte, das Aufbrechen alter Strukturen, einhergingen mit einem Aufblühen der Kreativität: Türkische Regisseure räumen heute ab in Berlin und Cannes, der Kunstmarkt stürzt sich auf die jungen Istanbuler. Die Nation strotzt ob ihrer Renaissance vor Selbstbewusstsein und wird darin nur von einem übertroffen: von ihrem Premier.

Und genau das ist das Problem. Erdogan legt Anzeichen einer Hybris an den Tag, die Zweifel daran aufkommen lässt, dass er der richtige Mann für die weitere Demokratisierung der Türkei ist. Es ist eine Selbstherrlichkeit, der vielleicht kaum ein Politiker entrinnt, der so lange ohne echten Herausforderer agiert, der dazu noch einem fast übermächtigen Gegner - der Armee - die Flügel gestutzt hat.

Einst stützte sich Erdogans Partei AKP auf eine breite Koalition gesellschaftlicher Gruppen, nun wird der Premier zunehmend dünnhäutig, umgibt sich mit Jasagern. Eben noch kam er den lange unterdrückten Kurden mit revolutionären Schritten entgegen, jetzt schlägt er nationalistische Volten. Und immer wieder scheint sein autoritärer Zug durch, beispielsweise, wenn er per Fingerzeig ein Denkmal stürzen lässt, das ihm nicht passt.

Erdogan gibt den Visionär

Erdogan vermittelt oft den Eindruck, er glaube, genug an Reformen getan zu haben. Ein fataler Irrtum: Die türkische Demokratie hat Fortschritte gemacht, aber diese Fortschritte und alle Stabilität, der Wirtschaftsboom und all der außenpolitische Einfluss sind auf Sand gebaut, solange nicht den alten autoritären Strukturen der Garaus gemacht wird.

Eine "starke Türkei" verspricht Erdogan, er gibt den Visionär: Einen zweiten Bosporus will er graben, neue Städte aus dem Boden stampfen, der Türkei Atomkraftwerke schenken. Aber was für eine Stärke ist das, die sich im Gießen von Beton erschöpft? Wo die wahre Moderne heute auf Feldern wie Bildung und Internet entsteht - Felder, die die Türkei noch immer den Zensoren anvertraut, weil sich hier der Konservativismus der AKP-Führer aufs beste versteht mit dem repressiven Charakter des alten Apparats.

Erdogan hat der Türkei gutgetan, nicht, weil ihm die Demokratie in den Genen lag, sondern weil er Außenseiter war. Er brach das autoritäre System auf, und so verhalf er auch den Christen, den Griechen, Armeniern und Kurden zu neuen Freiheiten. Jetzt ist er selbst drinnen, im System. Und es besteht die Gefahr, dass er sich darin einrichtet.

Die Opposition - ein Dilemma

Die Weichen werden jetzt gestellt. Es sind Schicksalsweichen, die darüber entscheiden, ob die Türkei sich mit den Kurden versöhnt, ob sie sich ihrer mörderischen Vergangenheit stellt - im Ergenekon-Verfahren - und ob sie ihrer Zukunft ein demokratisches Korsett gibt, mit einer neuen Verfassung, die an die Stelle der alten Putschverfassung tritt.

Spannend an der Wahl vom Sonntag ist nicht, ob Erdogan gewinnt. Das tut er ohnehin. Spannend ist, ob er die Zweidrittelmehrheit erhält, mit der er eine neue Verfassung im Alleingang schreiben kann. Man will sich das nicht wünschen angesichts Erdogans Verlangen, der Türkei ein Präsidialsystem zu verpassen, was das Letzte wäre, was dieses Land braucht. Eine Ein-Parteien-Verfassung kann kein Gesellschaftsvertrag sein.

Aber es gibt ein Dilemma: Es war die Opposition, die in den letzten Jahren jedes gemeinsame Vorgehen sabotierte, und wenn sie Erdogans antidemokratische Tendenzen anprangert, dann ist eine große Portion Heuchelei dabei. Verglichen mit der kemalistischen CHP und der ultranationalistischen MHP ist Erdogans AKP für die türkische Demokratie noch immer das kleinere Übel: Die angeblich runderneuerte CHP schickt als Kandidaten auch einen bekannten Hetzer gegen Christen und Armenier ins Rennen.

Die Wahl ist nur der Startschuss für eine Zeit der Prüfung. Geprüft wird die türkische Demokratie. Geprüft werden Opposition und Regierung. Erdogan wird einen Triumph feiern. Möglich, dass es der Beginn seines Niedergangs sein wird. Wenn man optimistisch sein darf, dann deshalb: Die Türkei hat einen weiten Weg zurückgelegt - und ihre Bürger haben in den vergangenen Jahren oft bewiesen, dass sie mehr gesunden Menschenverstand besitzen als ihre Politiker.

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