Wahlen in der EU:Die europäischen Dada-Wähler

Europa bestimmt längst unseren Alltag, doch seine Bürger wollen das nicht wahrhaben. Daher besteht nun die Gefahr, dass sie - wie einst die Dadaisten, als ihre Kunst im Mainstream ankam - ihr Gebilde selbst zerstören.

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Als die Dadaisten vor hundert Jahren Bilder malten und Texte schrieben, wollten sie vor allem eines: nicht dazu gehören, die Norm brechen, individuell sein. Als sie dann selbst zum Mainstream wurden, als ihre Kunst "cool" wirkte und die Moderne zu bestimmen begann, da revoltierten sie gegen die Vereinnahmung. Die Dadaisten akzeptierten nicht, dass sie angekommen waren. Lieber zerstörten sie ihre Ordnung wieder.

Wenn die Europäer in anderthalb Monaten ihr Parlament wählen, spielen nicht wenige selbst dabei Dada. "Europa" ist politischer Mainstream, aber seine Bürger wollen das nicht wahrhaben. Was sie geschaffen haben, bestimmt längst ihr Leben, und trotzdem wollen etliche dieses Europa lieber zerstören. Das ist durchaus ein bisschen verständlich.

Vieles, worüber man seit Jahren klagen kann, fördert die Lust an der Zerstörung: Brüssel ist so fern, so abstrakt, so künstlich. Europa ist ja auch wunderbar gaga: Traktorsitze und Gurkenkrümmung werden geregelt, in Hinterzimmern herrschen die Bürokraten. Und wie heißt noch gleich mein Abgeordneter in Straßburg?

Bedrohlich, kompliziert, unverständlich

Die Kritik ist so abgedroschen wie einseitig. Die ehrliche Botschaft lautet: Europa ist schwierig, aber zwingend nötig. Anders als die Dadaisten können sich die Europäer den Luxus nicht leisten, ihre Kunst zu zerstören. Sie würden sonst nämlich schmerzhaft erfahren, dass sie ohne ihr Gebilde nicht existieren können. Um im Bild zu bleiben: Für nationalen Klassizismus ist kein Platz mehr. Und auch jenes Biedermeier, wie es die Partei "Alternative für Deutschland" oder die Ukip in Großbritannien predigen, verhält sich zu Europa wie die Gaslaterne zur LED-Diode.

375 Millionen Europäer können bis zum 25. Mai zur Wahl gehen. Das ist eine stattliche Zahl. Nur in Indien werden mehr Menschen in einer demokratischen Abstimmung um ihre Meinung gebeten. Das allein könnte man schon als Errungenschaft betrachten. Aber die Europäer entwickeln wenig Stolz auf ihre gemeinsame Demokratie. Sie empfinden sie als bedrohlich, kompliziert, unverständlich.

Wenn jetzt der Wahlkampf richtig beginnt, dann wäre das die Gelegenheit, auf Europas Erfolge, aber auch auf seine Schwächen zu schauen. Wer beklagt, dass bei der Bundestagswahl oft nicht inhaltlich argumentiert wird, der müsste nun jauchzen. Europa ist eine politische Großbaustelle, es fordert jene heraus, die noch verändern wollen, und gleichzeitig ist dies besonders schwierig.

Hybrid-Maschine EU tuckert vor sich hin

28 Nationen und ihre politischen Systeme verlangen nach angemessener Berücksichtigung; die mächtige Gruppe der 18 Euro-Staaten erzwingt besondere Regeln. Am anderen Ende des Spektrums gilt es, das gewachsene Misstrauen etwa der Briten zu verstehen, deren ungebrochenes, tief verwurzeltes Gefühl für ihre Nation und ihre Demokratie sie skeptisch sein lässt gegenüber der Dynamik im Zentrum Europas. Und dennoch wäre eine EU ohne Großbritannien ein Torso.

Die Aufgabenliste für das neue Europaparlament und die EU-Institutionen ist beeindruckend: Europa - und vor allem die Euro-Gemeinschaft - muss eine abgestimmte Wirtschafts- und Fiskalpolitik schaffen, wenn es nicht noch einmal durch den Schleudergang der Finanzwirtschaft gedreht werden will; Europa muss seine Handelspolitik prüfen und mit den USA abgleichen; Europa muss sich in seinem außenpolitischen Reden und Tun einig werden, wenn es nicht marginalisiert werden will. Die Brandherde der Weltpolitik liegen auch in der unmittelbaren Nachbarschaft. Gerade zeigt die Ukraine-Krise, dass die EU sich selbst ernster nehmen muss.

Widersprüchliche Botschaft

Schließlich und vor allem: Die Europäische Union weiß sehr genau, dass sie zu einem wirklich großen Sprung bei der Reform ihrer Institutionen ansetzen muss, wenn sie nicht von ihren eigenen Problemen zerrieben werden möchte. Die Kommission muss schlanker werden und eine bessere Definition ihrer Aufgaben ist dringend nötig. Die Teilhabe der nationalen Parlamente muss wachsen, zum Beispiel über ein Parlament der Parlamente.

Die Hybrid-Maschine EU - ein bisschen Parlamentarismus, ein bisschen Gemeinschafts-Verwaltung und eine Dosis Nationalstaat - tuckert mehr recht als schlecht vor sich hin. Aber ihre Kraft reicht nicht aus, um 28 immer noch heterogene Nationalstaaten und Gesellschaften hinter sich herzuziehen. In seiner jetzigen Verfassung wird Europa an der geringen Akzeptanz seiner Bürger scheitern.

Das ist die widersprüchliche Botschaft zur Europawahl 2014: So wie einst Dada kann sich Europa selbst zerstören; selten gab es so viele Gründe dafür. Und dennoch wird die Moderne nicht verschwinden. Europa ist längst in ihr angekommen, es hat die Moderne mitgeschaffen.

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