Wahlen im Inselstaat:Eine Merkel für Taiwan

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Nach 1300 Jahren regiert in China wieder eine Frau: In Taiwan wird Tsai Ing-wen Präsidentin, die von ihren Gegnern lange unterschätzt worden ist.

Von Kai Strittmatter, Taipeh

Erste Frau im Präsidentenamt. Mächtigste Frau in der chinesischsprachigen Welt. Die 59-jährige Tsai Ing-wen mag sich dem Wähler vorsichtig, scheu und zurückhaltend präsentiert haben, aber an diesem Wochenende schrieb sie chinesische Geschichte. Ihre Partei, die Demokratische Fortschrittspartei DFP, brach im Parlament erstmals die sieben Jahrzehnte währende Dominanz des politischen Dinosauriers Kuomintang KMT und errang die absolute Mehrheit der 113 Sitze.

Tsai Ing-wen wird als Staatschefin zwar nur die Insel-Republik Taiwan regieren und keineswegs das gesamte chinesische Reich. Und doch ist es mehr als 1300 Jahre her, dass eine Chinesin offiziell zur Herrscherin gekürt wurde: Kaiserin Wu Zetian (690 bis 705 n. Chr.) aus der Tang-Dynastie war das damals.

Nicht dass Tsai selbst sich mit der historischen Kaiserin vergleichen würde, um Himmels willen. Erstens gehört Tsai zu jenem Lager, das findet, die Insel Taiwan genüge sich eigentlich selbst, man müsse die alten Bande zu China nicht überstrapazieren. Und zweitens vergleicht sie sich selbst lieber mit einer anderen Regentin, einer, der der unspektakuläre, sachliche, gerne auch knochentrockene Auftritt so sehr zur zweiten Natur geworden ist wie ihr selbst: mit Angela Merkel. Eine Akademikerin wie sie. Eine, die als Außenseiterin die eigene Partei aufrollte. Eine, die sich bedeckt hält. Eine, die von den alten Männern in der eigenen Partei lange sehr unterschätzt wurde.

Das Pokerface, sagte Tsai Ing-wen einmal, habe sie von ihrem Vater gelernt, einem Selfmade-Unternehmer: "Er hat mich gelehrt, meine innersten Gefühle für mich zu behalten. Für einen Unterhändler ist das ein wichtiges Kapital."

Tsai war viele Jahre eine der wichtigsten Unterhändlerinnen für Taiwan, diskutierte internationale Handelsabkommen für ihr Land aus, leitete eine Weile unter dem von Peking scharf attackierten und später wegen Korruption inhaftierten Präsidenten Chen Shui-bian (2000-2008) das Amt für Festlandsangelegenheiten. Die Karrierejuristin und Professorin für internationales Handelsrecht mit Abschlüssen von Eliteuniversitäten wie Cornell in New York und der London School of Economics verdiente sich so ihre politischen Sporen. Bis heute hängt ihr der Ruf an, eigentlich eine Akademikerin zu sein, die aus Versehen in die Politik gestolpert ist.

Ihre vorsichtige Art hat ihr zudem den Vorwurf eingebracht, entscheidungsschwach zu sein. "Manche nennen sie 'Leeres-Herz-Gemüse'" - so heißt in China eine Art Wasserspinat - "weil sie ihr vorwerfen, für nichts wirklich zu stehen", sagt Karen Yu, eine Fair-Trade-Unternehmerin, die erstmals für die DFP kandidierte und die nun ins Parlament einzieht. "Aber das ist Unsinn. Tsai ist halt keine Selbstdarstellerin. Sie ist vorsichtig, hört sich zuerst alle Seiten an. Und dann entscheidet sie."

"Als Frau musst du dich in Taiwan doppelt anstrengen - das macht dich hart."

Wu Jieh-min, ein Soziologe von der Academia Sinica in Taipeh, verweist auf Tsais größtes Kunststück: "Als sie 2008 die Führung der DFP antrat, übernahm sie eine kaputte, von Skandalen zerrüttete Partei. Und dann leimte sie die Partei wieder zusammen und richtete sie auf. Das geht nur mit großem Führungswillen."

Nun ist Tsai Ing-wen als Frau - und dazu noch als alleinstehender - in einer patriarchalisch so stark geprägten Kultur wie der chinesischen und taiwanischen der Sprung an die Macht gelungen. Das ist ein "Meilenstein", wie nicht nur DFP-Neuling Karen Yu findet, die von sich sagt, sie selbst habe auch deshalb den Schritt in die Politik gewagt, "um bei diesem historischen Moment dabei zu sein". Eine "Premiere in 5000 Jahren chinesischer Geschichte", nennt es dann auch die Juristin Chen Yichien, eine Frauenrechtlerin, die der "Awakening"-Stiftung in Taipeh vorsteht. "Das Erstaunliche ist nur", sagt Chen, "dass kein Mensch in Taiwan das zum Thema gemacht hat".

Das neue Gesicht Taiwans ist die zur Präsidentin gewählte Tsai Ing-wen. Wichtigste Aufgabe der ersten weiblichen Staatschefin der Insel ist die Beziehung zu China. (Foto: Ulet Ifansasti/Images)

Beobachter wie die Schriftstellerin Lung Yingtai, die selbst vor Kurzem noch für die Kuomintang Kulturministerin war, erklären das mit der zunehmend progressiven Einstellung der jüngeren Taiwaner, für die eine Frau an der Macht "einfach kein Thema" mehr sei. Andere, wie die Feministin Chen Yichien, vermuten dahinter eher "die Angst ihrer Partei", die - ebenso wie der vernichtend geschlagene Rivale Kuomintang KMT - eben noch immer "eine Partei der alten Männer" sei.

Tatsächlich fühlte sich auch die mehr als 100 Jahre alte und mittlerweile ziemlich verknöcherte KMT gezwungen, als Reaktion auf Tsais Kandidatur mit einer feministischen Vizepräsidentschaftskandidatin anzutreten: Sie stellten Wang Ru-xuen auf, eine ehemalige Arbeitsministerin, die lange in der Frauenbewegung engagiert war. Wang berichtete kurz vor der Wahl im Gespräch mit der SZ von den Stereotypen, gegen die eine Frau in Taiwans Politik noch immer ankämpfen muss. "Wenn ein Minister in einer Fragestunde Fragen einfach nur dumm weglächelt, findet keiner etwas dabei", sagte sie. "Als Frau kannst du dir das nicht leisten, da musst du dich doppelt anstrengen. Das macht einen hart." Die Wahl Tsai Ing-wens sei tatsächlich ein "Durchbruch" für die Sache der Frau, sagt die KMT-Kandidatin von der politischen Konkurrenz.

Nach der Wahl gehen nun 43 der 113 Sitze im Parlament an Frauen. Das ist ein Anteil von 38,1 Prozent - besser als Deutschland, wo es knapp über 36 Prozent sind. Taiwan gibt in Sachen Gleichberechtigung aber ein gemischtes Bild ab. Fortschritten stehen merkwürdige Relikte aus alten Tagen gegenüber - das gesetzliche Verbot von Seitensprüngen etwa, das im Gerichtsalltag vor allem Frauen zum Verhängnis wird. Tsai Ing-wen ist auch nicht die erste Frau, die in Asien an die Macht kommt. Das gelang schon anderen wie Benazir Bhutto in Pakistan, Corazon Aquino auf den Philippinen oder aktuell Park Geun-hye in Südkorea. Das vielleicht Bemerkenswerteste an Tsais Aufstieg ist, dass sie die erste Frau auf dem Kontinent ist, der ihr Aufstieg aus eigener Kraft gelang. Sie ist die Erste, die nicht einem Vater oder Ehemann ins Präsidentenamt nachfolgt.

Viel helfen wird ihr das nicht. Die Herausforderungen sind groß: Der Konflikt mit der auf Wiedervereinigung drängenden Volksrepublik China, vor allem aber die ungeduldig drängende Jugend, die soziale Ungerechtigkeit und die lahmende Wirtschaft. Tatsache ist, dass dem Hightech-Land Taiwan in den letzten Jahren irgendwie "der Anschluss an die Welt verloren ging", wie DFP-Frau Karen Yu sagt. Viel Schonfrist wird man Tsai Ing-wen also nicht geben.

© SZ vom 18.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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