Süddeutsche Zeitung

Wahlen:Abspeckkur für den XXL-Bundestag

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Berlin (dpa) - Norbert Lammert - gescheitert. Wolfgang Schäuble - gescheitert. Zwei Bundestagspräsidenten mit CDU-Parteibuch haben es nicht geschafft, eine Verkleinerung des stetig anschwellenden Parlaments hinzubekommen. Es misslang, weil vor allem ihre eigenen Parteifreunde ihnen die Gefolgschaft versagten. Die nun von der Ampel-Koalition auf den Weg gebrachte Wahlrechtsreform soll endlich zum Erfolg führen.

Das Problem

Nach Paragraf 1 des Bundeswahlgesetzes besteht der Bundestag aus 598 Abgeordneten. Allerdings steht dort auch die Formulierung "vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen". Für diese Abweichungen sorgen Überhang- und Ausgleichsmandate, die dazu geführt haben, dass der Bundestag mit aktuell 736 Abgeordneten so groß ist wie nie zuvor. In der 19. Wahlperiode von 2017 bis 2021 waren es 709 Parlamentarier, in der 18. Wahlperiode 631, in der 17. Wahlperiode 622 und in der 16. Wahlperiode 614 Abgeordnete.

Die Ursache

Bei der Bundestagswahl hat jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählt man in jedem der 299 Wahlkreise einen Abgeordneten direkt. Maßgeblich für die Sitze einer Partei im Parlament ist aber ihr Zweitstimmenergebnis. Nur: Gewinnt sie mehr Direktmandate, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustehen, darf sie diese sogenannten Überhangmandate behalten. Um die nach dem Zweitstimmenergebnis ermittelten Kräfteverhältnisse wieder herzustellen, bekommen die anderen Parteien dafür seit der Wahl 2013 Ausgleichsmandate.

Die Reform

Das neue Wahlrecht deckelt gewissermaßen die Zahl der Sitze im Bundestag bei 630. Gewählt wird nach wie vor mit Erst- und Zweitstimme. Es gibt aber keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Entscheidend für die Stärke einer Partei im Parlament wird allein ihr Zweitstimmenergebnis sein. Auch die Grundmandatsklausel fällt weg. Nach ihr zogen Parteien bisher auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter fünf Prozent lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen. Jede Partei, die in den Bundestag will, muss künftig bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen bekommen. Mit einer kleinen Ausnahme: Parteien nationaler Minderheiten bleiben davon befreit.

Die Kritik

Künftig wird jede Partei nur noch so viele Mandate erhalten, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen - auch dann, wenn sie mehr Direktmandate holt. Dann gehen die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis leer aus. Dies wird vor allem von CDU und CSU kritisiert. Dass die Grundmandatsklausel wegfällt, erzürnt neben der CSU auch die Linke. Hätte die CSU bei der Bundestagswahl 2021 nicht bundesweit 5,2 Prozent geholt, sondern 4,9 wie die Linke, wäre keiner ihrer 45 erfolgreichen Direktkandidaten in den Bundestag gekommen. Die Linke wäre natürlich auch draußen. Beide Parteien sehen darin eine grobe Missachtung des Wählerwillens.

Änderungen am ersten Entwurf

Was die Politiker der Opposition besonders auf die Palme gebracht hat, war die Tatsache, dass die Ampel-Fraktionen wenige Tage vor der geplanten Abstimmung ihren ersten Entwurf durch eine neue Variante ersetzten. Ursprünglich wollte die Ampel das Parlament sogar wieder auf die im Bundeswahlgesetz genannte Sollgröße von 598 Abgeordneten reduzieren. Nachdem die Union diesen Vorschlag von SPD, Grünen und FDP abgelehnt hatte, präsentierte die Ampel dann einen geänderten Entwurf, der neben der höheren Zahl von 630 Mandaten auch die Streichung der Grundmandatsklausel beinhaltet. Linke und Union verkündeten in der abschließenden Debatte in seltener Einigkeit: So mit den anderen Fraktionen umzuspringen, sei arrogant und inakzeptabel. Schließlich müsse man sich bei so einem wichtigen Vorhaben in Ruhe eine Meinung bilden können.

Die Folgen

Bei der Bundestagswahl 2021 holte die SPD 206 Mandate, die CDU 152, die CSU 45, die Grünen 118, die FDP 92, die AfD 83 und die Linke 39 Mandate. Der SSW als Partei der dänischen Minderheit gewann einen Sitz. Der Wahlrechtsforscher Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung hat ausgerechnet, welche Folgen es gehabt hätte, wenn das neue Recht schon damals angewandt worden wäre. Dann sähe die Sitzverteilung so aus: SPD 188, CDU 138, CSU 38, Grüne 107, FDP 83, AfD 75, SSW 1. Das zeigt, dass die Argumentation der Ampel-Koalition stimmt, alle Parteien müssten gleichermaßen zur Verkleinerung des Bundestags beitragen. Wobei die Kritik der Linken nachvollziehbar ist, dass sie besonders getroffen würde.

Das Bundesverfassungsgericht

CDU, CSU und Linke halten das neue Wahlrecht für verfassungswidrig. Sie wollen es daher von Karlsruhe überprüfen lassen. Wie jede Bürgerin und jeder Bürger können Abgeordnete beim höchsten deutschen Gericht eine Verfassungsbeschwerde einreichen und erklären, dass sie in ihren Grundrechten verletzt worden seien. Die Unionsfraktion will zudem eine abstrakte Normenkontrolle anstrengen, bei der das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit der neuen gesetzlichen Regelungen mit dem Grundgesetz prüft. Für einen entsprechenden Antrag wäre ein Viertel der Mitglieder des Bundestags nötig.

Wie geht es jetzt weiter?

Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) hat neben dem Gang nach Karlsruhe noch einen zweiten möglichen Weg skizziert, die Reform der Ampel zu kippen. Er sagt, seine Partei sei zwar generell für eine Verkleinerung des Bundestages. Sie werde aber, wenn sie das nächste Mal an einer Regierung beteiligt sei, "darauf dringen, dass das geändert wird", sagte er mit Blick auf den Entwurf der Ampel.

© dpa-infocom, dpa:230317-99-990944/2

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