Wahlen:2000 Helfer, 2000 Fehlerquellen

Warum das vorläufige und das endgültige Wahlergebnis zwar immer nahe beieinanderliegen - aber niemals wirklich gleich sind.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Volker Mommsen kann guten Gewissens sagen, dass es bei ihm nie Unregelmäßigkeiten gab. Mommsen war bis vor wenigen Monaten der Bürgermeister von Hallig Gröde, Deutschlands kleinstem Wahlbezirk. 30 Jahre lang war er im Amt, diverse Wahlen hat er betreut, hundert Prozent Beteiligung waren dabei normal. Und das Auszählen? "Drei Minuten", sagt Mommsen. Länger dauerte das nie. "Ist bei uns ja auch nicht sehr schwierig." Bei der Landtags- und Bundestagswahl 2017 lebten neun Wahlberechtigte auf Gröde.

Im Rest der Republik ist die Gefahr größer, dass der Wählerwille ein Opfer von Flüchtigkeitsfehlern und anderen Missgeschicken wird. Unregelmäßigkeiten bei der Hessenwahl haben gezeigt, wie wichtig der zweite Blick auf ein Wahlergebnis ist, um sicher zu sein, dass ein knapper Vorsprung wirklich ein Vorsprung ist und jeder Sitz im Parlament richtig verteilt wird.

Wahlen in Deutschland funktionieren nach dem Prinzip der Selbstorganisation. Wähler wählen nicht nur, sie zählen die Stimmen auch aus, damit nicht der Verdacht aufkommt, Behörden könnten Einfluss nehmen. Ehrenamtler sollen an Wahlabenden möglichst schnell präzise Ergebnisse liefern. Aber Menschen machen Fehler. "Allein in Braunschweig haben wir 2000 Helfer", sagt Knut Papenfuß, Leiter des Wahlamtes in der niedersächsischen Stadt, "da kann immer mal jemand einen Stimmzettel auf die falsche Seite legen oder eine falsche Zahl eintippen."

"Jeder weiß, dass man auf das Ergebnis nochmal draufgucken muss."

Mit Schulungen und Informationsmaterial bereiten die Wahlämter ihre Helfer vor. Die Wahlverordnungen geben klare Orientierung: Stimmzettel sortieren, Niederschriften anlegen, im Wahlvorstand über strittige Zettel abstimmen. Und der Computer zeigt an, wenn etwa die Summe der Stimmen für eine Partei höher ist als die Zahl der Gesamtstimmen. Trotzdem: Ein Wahlabend ist lang, und niemand perfekt. Die nachträgliche Prüfung ist deshalb Pflicht. Papenfuß sagt: "Das, was da am Sonntagabend steht, ist immer nur ein vorläufiges Ergebnis. Nichts anderes."

Jede Landtagswahl funktioniert nach einer etwas anderen Wahlverordnung. Kein Wahlamtsleiter in Niedersachsen, Hamburg oder Baden-Württemberg würde deshalb jemals die Hessenwahl analysieren. Auch Knut Papenfuß kann nur sagen, dass bei Wahlen in Niedersachsen die ersten Ergebnisse nicht gleich an die Landeswahlleitung gehen (wie in Hessen). Sondern zunächst an die kommunalen Wahlämter, die die Ergebnisse dann ans Land weiterleiten. Und er, Papenfuß, seit 25 Jahren Wahlamtsleiter, mag auch keine Schätzungen, wie das in Frankfurt und auch zwei Wochen zuvor in München geschah, weil dort Meldungen ausblieben. Papenfuß versteht das zwar. "Da denkt sich ja keiner etwas Unlogisches aus. Jeder weiß, dass man auf das Ergebnis nochmal draufgucken muss." Er geht trotzdem anders vor: "Ich warte lieber." Auch in Leipzig "werden bei Wahlen grundsätzlich keine Schätzungen vorgenommen", meldet der dortige Amtsleiter Peter Dütthorn.

Morgens nach einer Wahl sitzen Papenfuß und seine Amtskollegen mit 223 Niederschriften aus den Braunschweiger Wahlbezirken da, die sie alle mit den Werten in den Computern abgleichen müssen. Dann prüft der Kreiswahlausschuss, schließlich der Landeswahlausschuss. Es bleibt nie gleich, sagt Papenfuß. Michael Haußmann vom Wahlamt in Stuttgart stimmt zu: "Bei allen Wahlen gibt es Veränderungen zwischen dem vorläufigen und dem amtlichen Endergebnis. Normalerweise in einem sehr kleinen Umfang."

Je einfacher das Wahlrecht, desto geringer die Fehlerquote. Das kann Thomas Herbrig bestätigen, Wahlamtsleiter in Bremerhaven, Land Bremen. Bei der Bundestagswahl und den meisten Landtagswahlen hat jeder zwei Stimmen, eine für seinen Direktkandidaten, eine für seine Partei. Im Land Bremen darf jeder bis zu fünf Stimmen abgeben, mehrere davon einer Partei oder sie auf die Parteien verteilen. Für die demokratische Willensbildung ist das gut, für die Auszählenden eine Zumutung. In Bremerhaven gibt es deshalb ein Stimmenauszählzentrum, in dem bei den Bürgerschafts- und Kommunalwahlen vor drei Jahren 700 Helfer arbeiteten. Die versiegelten Urnen aus den Wahllokalen kommen dort hin, dann beginnt das große Zählen. Zu Fehlern kommt es trotzdem.

Das Ergebnis der Wahlen 2015 hatte deshalb erst 16 Monate später Bestand. Es beschwerte sich zunächst die AfD. Die Nachprüfung ergab, dass die teilweise sehr jungen Wahlhelfer Kreuze falsch zugeordnet hatten oder beim Eintippen in die verkehrte Spalte gerutscht waren. Mehrere Parteien waren betroffen. Dass in einem Bezirk Wahlberechtigte nicht zugelassen wurden, weil sie keinen Ausweis dabei hatten, hatte Auswirkung aufs prozentuale Wahlergebnis und führte kurzzeitig dazu, dass die AfD einen Sitz mehr in der Bürgerschaft bekam. Im September 2016 machte der Staatsgerichtshof dies rückgängig. Die Lehre? "Den Fehlerfaktor Mensch muss man hinnehmen", sagt Herbrig, "die Wahlämter versuchen, ihn zu reduzieren."

Die Fehler müssen im Rahmen bleiben, damit Wahlen nicht beliebig werden. Weniger wild war etwa jenes Missgeschick, das ein Kieler Wahlvorstand im Mai nach den Kommunalwahlen von Schleswig-Holstein melden musste. Jemand hatte den Schlüssel in die Urne geworfen. Ein Bolzenschneider half.

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