Wahl zum Europäischen Parlament:Prügelknabe Brüssel

Die Stimmung der Bürger gegenüber der EU ist gleichgültig bis miserabel. Kein Wunder, behandeln Politiker, Parteien und Regierungen Brüssel doch als Prügelknabe. Dennoch: Die Europäer sollten die Wahl ernstnehmen - und ihre Stimme abgeben.

Martin Winter

Es könnte eine Stunde großer Freude sein. Vom Schwarzen Meer bis zum Nordmeer, von Irland bis Zypern wählen so viele Völker wie nie zuvor in der Geschichte der Vereinigung Europas ein gemeinsames Parlament. Es ist ein demokratischer Akt, durch den die Menschen sich unmittelbar am Zusammenwachsen des Kontinents beteiligen.

Europäische Union; ddp

Statt Zeichen für europäischen Aufbruch, findet man überall Hinweise auf Rückzüge ins Nationale.

(Foto: Foto: ddp)

Über alle sprachlichen, kulturellen und historischen Gräben hinweg können sie mit ihrer Stimme dem alten europäischen Traum Kraft verleihen, die Chancen der Gegenwart und der Zukunft gemeinsam zu ergreifen und ihren Gefahren geschlossen zu begegnen. Doch von Freude oder gar Begeisterung ist bei dieser Europawahl wenig zu spüren.

Im Gegenteil, die Stimmung gegenüber der EU ist gleichgültig bis miserabel. Wundern sollten sich Parteien, Politiker und Regierungen darüber nicht - und klagen schon gar nicht. Wer, wie die meisten von ihnen, Brüssel vor allem als Prügelknabe missbraucht und dermaßen gleichgültige Wahlkämpfe führt, wie es gegenwärtig in allen Mitgliedstaaten zu beobachten ist, der demütigt die Europäische Union in den Augen ihrer Bürger. Anzeichen für einen europäischen Aufbruch sucht man vergebens, dafür findet man überall Hinweise auf Rückzüge ins Nationale.

Die Europäische Union schwebt in akuter Gefahr, an Desinteresse und an Egoismus zugrunde zu gehen. Die EU ist in die denkbar schlechteste Lage geraten: In einer Zeit, in der sie einen beachtlichen Teil ihrer Kraft aufwenden muss, um mit den praktischen Folgen der großen Erweiterung nach Osten fertigzuwerden, muss sie sich auch noch gegen die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise stemmen.

Zugleich werden die Fragen von Amerikanern, Russen oder Chinesen immer drängender, ob und wie Europa denn eine maßgebliche Rolle in der Welt spielen will. Das alles auf eine Reihe zu kriegen, ist nicht einfach. Aber es ginge, wenn nur der politische Wille und der Mut dazu da wären.

Jeder ist sich selbst der Nächste

Doch daran fehlt es bei denen, die stark genug wären, Europa nach vorne zu bringen. Die Deutschen beschäftigen sich vor allem mit sich selber. Die Berliner Parteien missbrauchen die Europawahl als Testgelände für die Bundestagswahl. Und als es um die Rettung von Opel ging, da kannte man keine Europäer mehr, sondern nur noch Deutsche.

In der gegenwärtigen Krise ist sich jeder selbst der Nächste - auch in Frankreich. Nicolas Sarkozys großen europäischen Entwürfen folgen allzu häufig national-eigensüchtige Taten. In Großbritannien verabschiedet sich die Politik eher von der EU, als dass sie sich an ihre Spitze setzte. Der Italiener Silvio Berlusconi betrachtet Brüssel nur als eine weitere Bühne zur Selbstdarstellung. Wie zu erwarten war, haben sich zudem Hoffnungen nicht erfüllt, in der größeren EU könnten sich neue Länderkonstellationen bilden, die den traditionellen deutsch-französischen Motor ersetzen würden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Bedeutung der Wahl an diesem Wochenende zukommt.

Flurschaden im europäischen Gemüt

Keiner will die Führung übernehmen. Selbst Angela Merkel, die es als deutsche Kanzlerin könnte und auch müsste, weil kaum ein Land mehr an einer blühenden EU interessiert ist als Deutschland, zaudert. Kürzlich hielt sie eine europapolitische Grundsatzrede, die sich so zusammenfassen lässt: Wir richten uns im Status quo ein. Wer so denkt, der verwechselt das Problem mit der Lösung.

Die Grafik zur Europawahl Europawahl

Europa leidet gegenwärtig nicht an zu viel Visionen und großen Entwürfen, sondern an zu wenig Inspiration. So gibt es keinen ernsthaften Versuch einer europäischen Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise. Die im ersten Schock über den Absturz des globalen Finanzsystems verfassten gemeinsamen Forderungen an die Weltgemeinschaft sind längst nationalen Egoismen gewichen. Eine europäische Finanzaufsicht etwa, die diesen Namen verdiente, gibt es nicht, weil sie die Kreise der Londoner Finanzjongleure stören und deutsche Bundesbanker Einfluss kosten könnte.

Einflusszonen der Weltpolitik

Die Probleme, die die neuen Mitgliedsländer der EU bereiten, werden entweder übersehen oder heruntergespielt. Dass und wie die gegenwärtige tschechische EU-Präsidentschaft gescheitert ist, lehrt einiges über die Stabilitätsprobleme der jungen Demokratien, aber auch viel über die alten EU-Länder, die dem weitgehend ungerührt zuschauen. Und in der Weltpolitik, also da, wo die Einflusszonen der Zukunft abgesteckt werden, spielt die EU kaum eine Rolle, weil sich die meisten osteuropäischen Staaten lieber von Washington leiten lassen, und weil im Westen weder Frankreich noch Großbritannien auf ihre nationale Größe verzichten wollen.

In dieser Zeit, in der die nationalen Regierungen in ihrer europäischen Verantwortung weitgehend versagen, kommt der Wahl an diesem Wochenende eine besondere Bedeutung zu. Denn ein starkes Parlament, das sich auf eine solide Wahlbeteiligung und auf klare politische Mehrheiten stützt, könnte sich gegen die Tendenz zur Enteuropäisierung stemmen. Der europäische Reformvertrag von Lissabon, der hoffentlich Ende des Jahres in Kraft tritt, gibt den Abgeordneten dazu einige Handhabe. Weil sie als Gesetzgeber weiter gestärkt werden, können sie dem Rat, der mächtigen Versammlung der Regierungen, bessere europäische Lösungen abringen.

Der Vertrag räumt den Parlamentariern auch großen Einfluss auf die Besetzung der EU-Kommission - also der europäischen Exekutive - ein. Nur müssen sie diesen dann auch nutzen. 30 Jahre nach seiner ersten Direktwahl sollte das Parlament reif genug sein, klare politische Mehrheiten zu organisieren. Warum kein Schwarz-Gelb, Rot-Grün, eine Jamaika- oder Ampel-Koalition im Brüsseler Parlament? Die Politisierung dieses Parlaments, das sich lange in den Absprachen zwischen den großen Parteienfamilien der Konservativen und der Sozialisten gemütlich eingerichtet hatte, ist überfällig.

So wichtig vertragliche Rechte für das Vielvölkerparlament sind, entscheidend für seine Stärke ist die Art, wie es gewählt wird. Denn aus der erwächst das Maß seiner politischen Legitimation. Dabei steckt das Parlament in einem Dilemma. Trotz seines gewachsenen Einflusses fällt es den Parteien schwer, ihre Wähler zu mobilisieren. Gegen den Flurschaden, den nationale Politiker im europäischen Gemüt angerichtet haben, kommt man nur schwer an. Und wer sich dann noch kaum Mühe im Wahlkampf gibt, der muss sich nicht wundern, wenn die Menschen diese Wahl nicht wichtig nehmen.

Oder dass sie diese Wahl dazu missbrauchen, ihren Regierungen einen Denkzettel zu verpassen - oder mal fremden- und europafeindlich zu wählen, wie es nun schon in den Niederlanden geschehen ist, und wie es sich in anderen Ländern wiederholen könnte. Ein Europaparlament aber, in dem sich im Vergleich zu den nationalen Kammern überproportional viele Rechtsextreme und Europafeinde tummeln, wäre politisch geschwächt. Im Interesse der Europäer liegt das sicherlich nicht. Auch wenn keine Freude bei dieser Wahl aufkommt, so gibt es doch mehr als einen Grund, sie ernst zu nehmen.

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