Wahl zum Abgeordnetenhaus:Die Piraten sind tot, es leben die Piraten

Mitglieder der Piratenpartei protestieren als Zombies am Brandenburger Tor gegen das geplante transa

Untote Piraten auf einer Demonstration in Berlin gegen TTIP und Acta (Archivbild)

(Foto: imago/Christian Mang)

Die Piraten sind am Ende, heißt es oft. Doch viele ihrer einstigen Köpfe denken gar nicht ans Aufhören. Sie haben zu schätzen gelernt, gegen was sie einst rebellierten: die Arbeit in etablierten Parteien.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Mehr FDP wird es nicht in Berlin-Kreuzberg. Einige Dutzend Menschen, die meisten unter 40, sitzen im "Spielfeld Digital Hub" auf Pappquadern, trinken Bio-Limonade und lauschen FDP-Chef Christian Lindner. Es sind mehr Männer als Frauen, die Hemdenquote ist für Kreuzberger Verhältnisse hoch. Das "Spielfeld" ist ein Zentrum für Start-ups, gefördert von einer Unternehmensberatung und einem Kreditkartenunternehmen.

Lindner spricht über die Berliner Bürokratie, über Hindernisse für Jungunternehmer im Allgemeinen. "Jemand, der es schon geschafft hat, ist von vielen Rahmenbedingungen nicht mehr so abhängig wie jemand, der den Laden erst einmal zum Laufen bringen muss", sagt er. Er scherzt über die immer noch desolate Lage seiner FDP - und ein wenig auch über den Mann, der neben ihm steht. "Bei ihm muss man sagen: Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast", sagt Lindner.

Der Mann neben ihm ist Bernd Schlömer. Er ist 45 Jahre alt, Regierungsdirektor im Bundesverteidigungsministerium und kandidiert für die FDP im grünen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Die meisten kennen ihn aber, weil er einmal Chef der Piratenpartei war. Er erlebte mit der Partei den Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus 2011, einen Umfragen-Höhenflug und wenige Monate darauf den Absturz.

Comeback in anderen Parteien

Die Partei feierte am Wochenende ihren zehnten Geburtstag. In den Kommentaren dazu hieß es oft lapidar: Die Piraten sind tot. In den Umfragen kurz vor der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses, wo vor fünf Jahren ihr Aufstieg begann, liegen sie derzeit weit unter fünf Prozent. Wer jedoch in diesen Tagen in Berlin unterwegs ist, muss die Aussage relativieren. Denn viele ihrer ehemaligen prominenten Vertreter denken überhaupt nicht daran, mit der Politik aufzuhören - wenngleich sie diese längst nicht mehr nur in der Ursprungspartei betreiben.

Bernd Schlömer ist einer davon. Ein anderer ist Martin Delius, der zu den bekanntesten Abgeordneten der Partei im Berliner Landesparlament gehörte. Delius leitete den BER-Untersuchungsausschuss und eine Fraktion, die 2011 ziemlich überraschend mit 15 Kandidaten ins Abgeordnetenhaus einzog. Der 32-Jährige ist inzwischen Mitglied der Linkspartei.

Vor allem in seiner Tätigkeit als Ausschussvorsitzender stand er viel in der Öffentlichkeit und galt noch zu einer Zeit als politisches Talent, als viele die Piraten längst abgeschrieben hatten. Dabei sei die Leitung der Fraktion eigentlich die härtere Arbeit gewesen, erzählt er bei einem Mittagessen im August.

Sitzung Berliner Abgeordnetenhaus

Ex-Pirat Martin Delius (re.) mit Klaus Lederer, dem Landesvorsitzenden der Partei Die Linke in Berlin.

(Foto: dpa)

"Mich hat die Piratenpartei zum Feministen gemacht. Und das Parlament zum Sozialisten"

Nun muss Delius die Fraktion wohl bald abwickeln. Traurig wirkt er darüber nicht. Er ist bereits vor Monaten bei den Piraten ausgetreten. "Mich hat die Piratenpartei zum Feministen gemacht. Und das Parlament zum Sozialisten", leitet er die Geschichte seines Weggangs ein. Feminismus war eines von vielen Streitthemen der Piraten. Und die Sache mit dem Sozialismus? "Man kann keine vernünftige progressive Politik machen, ohne einen Klassenstandpunkt zu haben, sich um die soziale Spaltung zu kümmern."

Auch die Frage nach der Digitalisierung, eines der Kernthemen der Piraten, drehe sich im Endeffekt um Teilhabe - und damit um soziale Gerechtigkeit. "Diesen Weg wollten viele Piraten allerdings nicht mitgehen", bilanziert er nüchtern. In der ideologisch eindeutig ausgerichteten Linkspartei fühlt er sich daher besser aufgehoben. Und deren Landeschef Klaus Lederer nahm Delius, den er schon aus der Opposition kannte, gern auf.

Früher noch als Delius, nämlich kurz nach der Bundestagswahl 2013, trat Bernd Schlömer bei den Piraten aus. Und zwar inhaltlich aus genau entgegengesetzten Motiven. "Es gab damals viele Stimmen, die die Piraten als linke Partei positionieren wollten. Ich wollte aber immer sozialliberale Politik machen", sagt er. Auch körperlich war er nach einigen Jahren ehrenamtlicher Politik-Arbeit inmitten des Piraten-Hypes am Ende. Nach der Bundestagswahl hatte er einen Bandscheibenvorfall, musste ins Krankenhaus.

Lehren aus der Piratenzeit

Die Erschöpfung, die er erlebt hat, kennen viele Piraten. "Viele haben ihre Schule, die Uni, den Job, die Familie vernachlässigt", erzählt Schlömer. Die Piraten waren für sie mehr als eine Partei, sie waren Hobby, Freundeskreis und Partnerbörse. Einerseits spreche das ja für eine solche Bewegung - auf der anderen Seite führte es zu genau jenen emotionalen Wutausbrüchen, persönlichen Feindschaften und letztlich unpolitischen Diskussionen, die der Partei den Absturz bescherten.

Auch Fabio Reinhardt, heute 35 Jahre, merkte schnell, dass die Piraten nicht alles im Leben sind - beziehungsweise: für einen Politiker nicht alles sein dürfen. "Sonst verliert man schnell den Blick für die Themen, die den Leuten wichtig sind. Und wird im schlimmsten Fall Alkoholiker, weil viele der Parteitermine mit Alkohol verbunden sind", sagt er.

Reinhardt ist eines der wenigen bekannten Gesichter der Piratenfraktion, die noch einmal für die Partei zur Wahl antreten. In seinem Heimatbezirk Friedrichshain-Kreuzberg verteilt er Flyer an ein paar Jungs, die an einem Freitagnachmittag schon beim dritten Bier in einer der vielen Kneipen sitzen. "Piraten, ey, die hab' ich auch mal gewählt", sagt einer von ihnen, "aber ihr habt es ja ganz schön verkackt."

Fabio Reinhardt, Piraten

Pirat Fabio Reinhardt tritt noch einmal an - auf Listenplatz elf.

(Foto: Piratenpartei Friedrichshain-Kreuzberg)

"Hör doch mal auf, so zu reden! Du redest wie so ein Politiker!"

Reinhardt lächelt gequält. Er weiß ja selber, woher dieses Bild kommt. Trotzdem setzt er nach: "Hier im Bezirk haben die Piraten aber super Arbeit gemacht, überlegt es euch doch noch einmal." Der angetrunkene Typ lacht und sagt: "Hör doch mal auf, so zu reden! Du redest wie so ein Politiker!"

"Wie so ein Politiker": ein Kompliment ist das nicht, das weiß Reinhardt. Er hat früher auch so gedacht wie die Jungs am Kneipentisch, erzählt er auf dem Weg zum Wahlkampfstand am Ostkreuz. "Leute, die in Parteien waren, waren für mich immer Karrieristen, "die da oben", die nichts mit "denen da unten" zu tun haben, sagt er. Die Arbeit im Parlament habe diese Einstellung verändert. "Ich habe gemerkt, dass es zwar in allen Parteien die Karrieristen gibt. Aber eben auch ganz viele normale Leute, die einen guten Job machen."

Reinhardt gehört nach Ansicht vieler, die sich mit der Berliner Politik auskennen, zu den Leuten, die einen guten Job machen. Er fokussierte sich schon lange vor der sogenannten Flüchtlingskrise auf das Thema Flüchtlingspolitik. Zum Beispiel trat er im Streit zwischen der Stadt und einigen Flüchtlingen, die seit 2012 die Gerhart-Hauptmann-Schule besetzt halten, als Fürsprecher der Geflüchteten auf. Als die chaotischen Zustände um das Berliner Lageso im vergangenen Sommer weltweit Schlagzeilen machten, stand er als Experte mittendrin.

Vom Abgeordneten zum potenziellen "Verräter"

Umso seltsamer scheint es, dass er auf der Landesliste der Piraten nur auf Platz elf steht. Das hat mit der Austrittswelle der vergangenen Jahre zu tun. Reinhardts Bürokollege Oliver Höfinghoff sowie viele seiner Freunde und Vertrauten innerhalb der Partei haben diese in den vergangenen Monaten verlassen. "Auf der Aufstellungsversammlung kamen einige auf mich zu und sagten: Ich schätze deine Arbeit - aber wer weiß, ob du nicht auch zum Verräter wirst?", erzählt er. "Das ist natürlich schade."

"Verräter": ein hartes Wort. Eines, das aber sinnbildlich steht für die Emotionalität, in der Debatten auch heute noch ablaufen innerhalb der Partei. Warum schmeißt man da nicht hin? Reinhardt nennt mehrere Gründe. "Erstens erschien es mir persönlich unlogisch, Mitglied der Piratenfraktion zu sein, aber kein Parteimitglied mehr. Das verstehen die Leute doch ohnehin nicht."

Viel wichtiger ist ihm allerdings: "Die Piraten haben mich in meinem Thema immer gut unterstützt." Das gelte für die Bundespartei, in der seine Ideen zur Flüchtlingspolitik immer gut angekommen seien - aber auch für die Fraktion. Reinhardt lobt insbesondere Fraktionschef Delius: "Wie der diese sehr unterschiedlichen Menschen in ihren Ideen und Themen unterstützt und gefördert hat, das war eine tolle Leistung."

Die anderen Parteien nehmen die Piraten gern

Zur Kandidatur motiviert haben Reinhardt aber letztlich nicht die Kollegen auf Landesebene, sondern seine Parteifreunde im Bezirk. "Die Leute hier sind unheimlich progressiv, sie haben einiges vorangebracht." Zum Beispiel mit einem Antrag zu Unisex-Toiletten, der bundesweit für Aufsehen gesorgt habe. Sein Mandat im Abgeordnetenhaus, das weiß er, wird Reinhardt verlieren. Doch schlimm findet er das nicht: "Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich die Jahre zwischen 30 und 40 eigentlich nicht komplett im Parlament verbringen will."

Da kommt es ihm zugute, dass er sich thematisch von seiner Partei freigeschwommen hat. "Viele Leute rufen mich inzwischen an, fragen mich um Rat - und wissen gar nicht, dass ich Abgeordneter der Piraten bin." Das will er in Zukunft nutzen. Mit Freunden hat er ein Unternehmen gegründet: Die Unternehmensberatung "Vocata" will zwischen Geflüchteten und Unternehmen vermitteln, die diesen Arbeit geben möchten. Sein Lieblingsthema bleibt ihm also.

Die Vorteile professioneller Strukturen

Sein Fraktionskollege Martin Delius weiß noch nicht, wie es beruflich weitergeht - oder will es zumindest nicht verraten. Dass Politik weiter Teil seines Lebens sein wird, steht für ihn jedoch außer Frage. "Ich mache Politik, seit ich 14 Jahre alt bin", sagt er. Dass er das nun in einer etablierteren Partei tut als früher, ist für ihn kein Nachteil - gerade wenn es darum geht, die innerparteiliche Willensbildung zu modernisieren, zu öffnen.

"Ich dachte früher immer, eine junge Partei wie die Piraten habe da einen Vorteil", sagt er. "Doch uns fehlte der motivierende Unterbau, ein Selbstverständnis, das die Leute auch zusammenhält, wenn es mal Unstimmigkeiten gibt." Auch brauche es anerkannte Machtstrukturen, um Beschlüsse durchzusetzen. Das sieht Bernd Schlömer genauso. "In der FDP geht es auch sehr zur Sache in den Diskussionen - aber wenn ein Mehrheitsbeschluss gefällt ist, dann akzeptieren die Leute den. Bei den Piraten musste man dann beim nächsten Treffen noch mal darüber reden."

Auch eine professionelle Diskussionskultur sei wichtig. "Die Mitglieder der FDP gehen viel höflicher miteinander um als die Piraten", sagt er und lacht: "Ich war richtig verblüfft, als ich das erste Mal zu einem Barcamp in Kreuzberg kam und alle siezten mich." Um das Siezen gehe es ihm mit der Diskussionskultur natürlich nicht - sondern um eine Art professionelle Distanz. Die habe vielen Piraten gefehlt. Und letztlich auch dazu beigetragen, dass die Erschöpfung sie übermannte.

Die FDP freut sich über Schlömer

Bei ihm war sie so groß, dass er 2013 gar nicht sicher war, ob er in die Politik zurückkehren möchte. "Ich habe erst einmal mein Privatleben genossen", sagt Schlömer. "Auf der anderen Seite war ich schon immer der Meinung, dass es die Pflicht eines jeden Bürgers ist, sich neben dem Job noch zu engagieren, sei es in einem Verein, in der Kirche oder eben einer Partei."

Schlömer sah sich um und fand die Entwicklungen der FDP interessant. "Die Westerwelle-FDP wäre nichts für mich gewesen, das war eine Ein-Themen-Wirtschaftspartei", sagt er. Nach der Niederlage der FDP 2013, so glaubt es nicht nur Schlömer, sei die FDP jedoch auf einem guten Weg, wieder vielfältiger zu werden. Er selbst will sich vor allem um das Thema Digitalisierung kümmern und um Bürgerrechte. "So leben die Ideen der Piraten weiter - nur eben in anderen Parteien", sagt er.

Christian Lindner ist mit ihm einer Meinung. Und freut sich auf der Veranstaltung im "Spielfeld" sichtlich darüber, dass Bernd Schlömer und sein Co-Chef bei den Piraten, Sebastian Nerz, zur FDP gewechselt sind. "Wenn einer wie Bernd Schlömer zu uns kommt und sich gleichzeitig auch Wirtschaftsvertreter wieder der FDP zuwenden, dann sind wir auf einem guten Kurs", sagt er.

Das Fazit: Etablierte Parteien als Erfolgsmodell

Während der Veranstaltung im Spielfeld harmonieren die beiden jedenfalls gut. Lindner ist ein lockerer, mitreißender Redner - der jedoch manchmal eine Pointe zu viel setzt. Schlömer dagegen ist keiner, bei dem sich die Zuhörer lachend auf die Schenkel hauen. Er unterfüttert den Vortrag seines Parteichefs lieber mit kleinen Beispielen. Grundsolide und sympathisch, so wirkt der kräftige, stets freundlich lächelnde Schlömer. Alles Eigenschaften, die der alten FDP nach Meinung vieler zuletzt abgingen.

Ob Schlömer damit in Berlin Erfolg haben kann, muss sich allerdings noch zeigen. Die Partei kratzt zwar an der Fünf-Prozent-Hürde, sicher ist ihr Einzug allerdings nicht. Schlömers Bezirk, die grüne Hochburg Friedrichshain-Kreuzberg, ist ohnehin einer der schwierigsten. "Das letzte Mal hatte die FDP hier nur ein Prozent der Stimmen", sagt er. Und nur wegen eines Ex-Piraten-Politikers nehme niemand gleich die ganze FDP anders wahr - "das Image einer Partei baut sich über Jahre auf". Doch Potenzial sieht er. "Hier gibt es durchaus junge, weltoffene Menschen, die von bestimmten Aspekten der Grünen abgeschreckt sind - zum Beispiel der Verbotskultur."

Vor allem aber bleibt von dem Treffen ein Eindruck: Schlömer, dem in den letzten Monaten bei den Piraten nichts als Stress und Ärger im Gesicht standen, hat gute Laune. Die Arbeit bei der FDP macht ihm Spaß, "Kreuzberg ist so etwas wie das Labor der Partei", sagt er. Auch sein Ex-Parteifreund Martin Delius, Neumitglied der Linken, freut sich auf die Arbeit in der Partei. "Es gibt für einen politisch aktiven Menschen in Deutschland keine bessere Möglichkeit, Einfluss zu nehmen als in einer Partei", sagt er.

Etablierte Parteien als Erfolgsmodell: Wenn das kurz nach dem zehnten Geburtstag der Piraten, die mal alles anders machen wollten, kein ungewöhnliches Fazit ist.

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