Wahl zum Abgeordnetenhaus:Die neue Regierung muss die Berliner ernst nehmen

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Die Hauptstadt boomt, vielerorts wird gebaut. Doch für viele Berliner sind die Wohnungen nicht mehr bezahlbar.

(Foto: imago/Westend61)

SPD und CDU haben nicht nur so schlecht abgeschnitten, weil da plötzlich die AfD ist. Sie haben auch versäumt, die Wachstumsschmerzen einer boomenden Hauptstadt zu lindern.

Analyse von Hannah Beitzer, Berlin

Oje, oje, die AfD! So oder so ähnlich klingen viele Kommentare nach den Landtagswahlen der vergangenen Monate. Oje, oje heißt es jetzt auch wieder in Berlin. 14,2 Prozent der Stimmen erreichte die Partei in der Hauptstadt. Die bisher regierende große Koalition aus SPD und CDU schmierte ab.

Im Fall von Berlin wäre es allerdings falsch, automatisch die Flüchtlingspolitik und die damit verbundenen Hetzparolen der Alternative für Deutschland für den Misserfolg der Regierungsparteien verantwortlich zu machen. Denn der Aufstieg der AfD ist nur einer von mehreren Gründen für den Absturz von SPD und CDU. Die SPD zum Beispiel verlor ersten Analysen zufolge fast genauso viele Stimmen an die Linkspartei wie an die AfD. Außerdem einen ganzen Batzen an CDU und FDP. Und die CDU musste starke Verluste in Richtung FDP hinnehmen - das sind wohl die, die Rot-Rot-Grün für keine gute Idee halten.

Berlin braucht Professionalität

Was könnten ansonsten die Gründe für das miese Ergebnis der sogenannten Volksparteien sein? Zum einen war die Zusammenarbeit von SPD und CDU im Senat wirklich keine Wahlempfehlung. Im Wahlkampf wurde deutlich: Die Koalitionäre halten eigentlich gar nichts voneinander. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) warf CDU-Spitzenkandidat Frank Henkel rechten Populismus vor, der konterte: "Müller wechselt die Haltung wie andere Leute die Unterwäsche."

Das Verhältnis galt spätestens als zerrüttet, seit die SPD der CDU und ihrem Sozialsenator Mario Czaja die Verantwortung für das Chaos am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) zuschob. Auch im Streit um die linksautonome Szene in der Rigaer Straße in Friedrichshain gerieten sich Müller und Henkel oft in die Haare.

Das alles wirkt weder respektvoll noch professionell. Professionalität ist es aber, was sich die Berliner dringend von ihrer Regierung wünschen. Denn sie spüren, dass die Stadt vor gewaltigen Herausforderungen steht, für die es bisher noch keine befriedigende Lösung zu geben scheint. Die neue Regierung, die mit ziemlicher Sicherheit ein rot-rot-grünes Bündnis sein wird, muss die Wachstumsschmerzen lindern, die Berlin plagen - und das bestenfalls, ohne sich ständig gegenseitig zu demontieren.

Da ist zum Beispiel die Sache mit den Berliner Bürgerämtern. Wie die gesamte Verwaltung kommen die lange kleingesparten Behörden mit der wachsenden Bevölkerung nicht klar, so dass jeder Berliner, der in den vergangenen Jahren das Pech hatte, ein offizielles Dokument zu benötigen, Geschichten von irrwitzig langen Warteschlangen und ausgebuchten Online-Anmeldeformularen erzählen kann.

Angst vor der sozialen Spaltung

Die Regierung, vor allem die SPD, reagierte auf diese Zustände viel zu wurstig - zumindestens kam es bei vielen Berlinern so an. Da sei eben in der Vergangenheit zu viel gespart worden, hieß es; wird schon wieder, ab jetzt wird investiert! Und überhaupt, ist doch toll, wenn Bevölkerung und Wirtschaft wachsen. Stimmt ja alles irgendwie, doch es blieb das Gefühl: So richtig ernst nimmt uns der Senat nicht. Vielen Menschen in Berlin, und das ist vielleicht der wichtigere Punkt, macht das Wachstum außerdem aus anderen Gründen Angst.

20 Prozent der Hauptstadtbewohner gelten als arm, jedes dritte Berliner Kind lebt von Hartz IV. Gleichzeitig kommen mehr und mehr Gutverdiener der boomenden Wirtschaft wegen in die Stadt.

Mehr als die Hälfte aller Wähler in West und Ost gaben einer Umfrage von Infratest dimap an, dass "soziale Gerechtigkeit" für sie das wahlentscheidende Thema sei. Es landet mit weitem Abstand auf Platz eins aller Themen. Da hilft es gerade nichts, wenn der Regierende Bürgermeister Müller stets betont: "Die Wirtschaft boomt." Denn bei manch einem Alteingesessenen ist das Gefühl: Sie boomt, aber nicht für mich.

So ist Wohnraum im Innenstadtbereich längst knapp, die Mieten steigen in ganz Berlin. Da kann die SPD noch so sehr auf die Mietpreisbremse verweisen - beim stinknormalen Berliner wird die Miete trotzdem erhöht. Das bekamen viele SPD-Wahlkämpfer in den vergangenen Wochen zu spüren.

Eine riesige Herausforderung für Rot-Rot-Grün

Vor diesem Hintergrund passt es, dass sich knapp die Hälfte der Berliner eine rot-rot-grüne Koalition wünscht. SPD, Grüne und Linke haben zum Beispiel im Wahlkampf mehr bezahlbaren Wohnraum versprochen, wollen sich vor allem um Sozialwohnungen kümmern. Jetzt müssen sie diese Versprechen einlösen. Sie müssen Visionen für eine wachsende Stadt entwerfen, von der nicht nur Gutverdiener profitieren, sondern auch diejenigen mit weniger Geld.

Dabei sollten sie, und das ist die nächste große Lehre aus den vergangenen Jahren, die Vorschläge und Ideen der Bürger anhören. Denn die nehmen sonst unter Umständen die Sache selber in die Hand - und zwar nicht, indem sie damit drohen, AfD zu wählen. In Berlin gab es in den vergangenen Jahren mehrere Volksinitiativen, die den Politikern offensichtlich in den Hintern treten wollten.

So lehnten die Berliner eine Bebauung des Tempelhofer Feldes ab. Die Angst vor Gentrifizierung spielte dabei eine große Rolle. Eine andere Initiative entwarf ein Gesetz für bezahlbaren Wohnraum und zwang den Senat an den Verhandlungstisch. Zuletzt ging eine Bewegung von Fahrradfahrern an den Start, die Infrastruktur für Radfahrer in der Hauptstadt zu verbessern.

All diese Initiativen einte eine gehörige Portion Misstrauen gegenüber der Regierung aus SPD und CDU, die ihrer Meinung nach weder die wichtigen Themen der Hauptstadt angemessen behandelt habe, noch sich dafür interessiere, was die Bürger umtreibe. Grüne und Linke standen übrigens üblicherweise an der Seite der Initiativen. Nun können und müssen sie zeigen, dass es mit ihnen an der Regierung besser wird.

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