Süddeutsche Zeitung

Wahl-Watcher zur Bundestagswahl:"Es geht bei der Bundestagswahl um die Zukunft der westlichen Welt"

Europa werde von zwei Seiten angezündet, sagt die Schriftstellerin Thea Dorn. Da sei keine Zeit, um über Steuersenkungen zu streiten. In der ersten Folge der Serie Wahl-Watcher erklärt sie, warum sie von Merkel enttäuscht ist.

Interview von Karin Janker

Am 24. September wählt Deutschland. Im Wahlkampf zeigt die politische Kultur eines Landes ihre Konturen. Die Kampagnen, Auftritte und Äußerungen von Politikern sagen viel über den Politikbetrieb - aber auch über Deutschland und seine Bürger. Als Wahl-Watcher beobachten eine Schriftstellerin, ein Philosoph, eine Sprachwissenschaftlerin und ein Historiker für die SZ den Wahlkampf. In einer Interview-Serie sprechen sie über das, was sie in diesen Monaten bewegt. Den Anfang macht die Schriftstellerin Thea Dorn, die dafür bekannt ist, dass sie von der Politik härtere Auseinandersetzungen fordert. In den vergangenen Wochen allerdings hat sie ihre Meinung geändert.

SZ: Der Wahlkampf läuft schleppend an. Die Wahlen in Frankreich, die Politik des US-Präsidenten, das Referendum in der Türkei - all das scheint die Menschen in Deutschland gerade mehr zu interessieren als die Wahl, die in weniger als fünf Monaten hierzulande stattfindet.

Thea Dorn: Auch mich beschäftigen diese Entwicklungen. Aber ich glaube nicht, dass sie in Konkurrenz zum Wahlkampf in Deutschland stehen. Im Gegenteil. Sie werden den Wahlkampf massiv beeinflussen.

Inwiefern?

Man spürt, dass 2017 etwas auf dem Spiel steht. In diesem Wahlkampf geht es um etwas. In Frankreich feiert der Front National Erfolge - wenn auch der erste Wahlgang nicht ganz so dramatisch ausgegangen ist wie befürchtet. In der Türkei errichtet Erdoğan eine ausgewachsene Diktatur. Hinzu kommt Trump, ein politischer Amokläufer im Weißen Haus. Man kann 2017 keinen Wahlkampf machen, als befänden wir uns im seligen Entenhausen und es ginge nur um Steuersenkungen für die einen oder die anderen. Es geht bei der Bundestagswahl um die Zukunft der westlichen Welt. Diese befindet sich offensichtlich in der Krise. Ein deutscher Wahlkampf, der dies nicht zum Thema machte, wäre peinlich und gefährlich verfehlt.

Was steht bei der Bundestagswahl auf dem Spiel?

Noch nie war die außenpolitische Kompetenz unserer Regierung so wichtig wie momentan. Es ist schwierig, den Despoten dieser Welt mit klarer Position entgegenzutreten und gleichzeitig keine Eskalationsspirale in Gang zu setzen. Denn dann droht die Welt in ein Chaos zu stürzen, wie sie es 1914 erlebt hat. Der Bundestagswahlkampf in diesem Jahr sollte gleichzeitig auch ein Wahlkampf für ein wohlverstandenes Europa sein. Alles sehr, sehr heikle Missionen.

Die Probleme, über die Sie sich Sorgen machen, wirken aber doch weit weg von den Menschen. Auf Wahlplakaten machen sich Versprechen besser, die unmittelbar mit deren Lebenswirklichkeit zu tun haben.

Wer beim Wählen vor allem an seine eigenen Probleme denkt und sich dafür Lösungen von der Politik erhofft, sollte sich vor Augen halten, dass sich jede Veränderung der Weltlage auch unmittelbar auf ihn auswirkt. Wenn es zu größeren Auseinandersetzungen in der Welt kommt, betrifft das den Hartz-IV-Empfänger in der Provinz genauso wie die Club-Mate-Trinkerin in Berlin-Prenzlauer Berg. Es geht bei diesem Wahlkampf jedenfalls um mehr als Klassenfragen.

Das lässt sich vor allem dann leicht sagen, wenn man selbst zur gesellschaftlichen Mitte gehört. Was ist mit jenen Menschen, die sich abgehängt fühlen oder es tatsächlich sind?

Ich halte es, ehrlich gesagt, für eine besonders subtile Form der Unterschichtenverachtung, wenn man ihnen unterstellt, sie würden sich für nichts interessieren außer für ihre eigene sozio-ökonomische Lage. Und wenn wir in die USA schauen, stellen wir fest, dass es eben nicht nur die schlecht ausgebildeten, armen Hillbillies und Rednecks waren, die Trump gewählt haben. Es ist falsch zu glauben, dass einzig die Abgehängten den großspurigen Scharlatanen hinterherliefen. Natürlich gibt es in der westlichen Welt nach wie vor Armut. Aber ich glaube nicht, dass sie momentan unser größtes Problem ist.

Diese Haltung muss man sich erst mal leisten können. Unterschätzen Sie die soziale Frage nicht dramatisch?

Für uns alle, für uns als Gesellschaft, ist das größte Problem die Tatsache, dass uns gerade von zwei Seiten her der Kontinent angezündet wird - im Westen liebäugelt Le Pen mit dem Feuer, im Osten sind mit Putin und Erdoğan zwei ausgemachte Zündler an der Macht. Und darauf, dass Amerika abermals zum Löscheinsatz über den Atlantik eilt, sollten wir uns in Zeiten von Trump nicht verlassen.

Falls es diese starke Konzentration auf die Außenpolitik gibt - wird sie sich eher positiv oder negativ auf die politische Debatte in den kommenden Wochen auswirken?

Ich erwarte, dass der Wahlkampf ein ruhiger und besonnener sein wird, mit eher wenig Emotionalisierungspotenzial. In Deutschland steht - zum Glück - keine solche Schicksalsentscheidung an wie vor einigen Monaten in den USA oder jetzt in Frankreich. Unsere beiden Kandidaten, Schulz und Merkel, verkörpern ja nur zwei Ausrichtungen eines sehr ähnlichen Programms: der bürgerlichen Sozialdemokratie. Der eine ist ein wenig sozialdemokratischer, die andere ein wenig bürgerlicher. Die einzig entscheidende Frage wird sein, ob es zu Rot-Rot-Grün kommen könnte.

Früher hätten Sie diese Gleichförmigkeit vermutlich heftig kritisiert. In Ihrem Buch "Ach, Harmonistan" von 2010 warfen Sie der deutschen Politik vor, die Harmonie zur Ideologie zu erheben, und forderten mehr Auseinandersetzung und klarere Fronten.

Ja, tatsächlich sind es für mich gerade verwirrende Zeiten. Inzwischen bin ich froh darüber, dass in Deutschland die Politik so langweilig ist. Denn das heißt auch, dass Politiker zivilisiert miteinander reden können und dass wir eine stabile Mitte haben. Ich war gerade längere Zeit in den USA - was ich dort erlebt habe, hat mich umdenken lassen. Dort sind die Fronten nicht nur klar, sondern so verhärtet, dass Hemmschwellen fallen. Denken Sie daran, wie Hunderte Leute "Lock her up!" skandierten und forderten, Hillary Clinton solle eingesperrt werden. Da wurden Mobgelüste entfesselt. Angesichts dessen bin ich froh über den Kuschelkurs in der Bundesrepublik.

In einem Ihrer Essays wünschten Sie Angela Merkel zum Amtsantritt Erfolg - auch, weil sie eine Frau ist. Wie fällt Ihre Bilanz nach zwölf Jahren Merkel aus?

Ich habe von Angela Merkel nie erwartet, dass sie feministische Politik macht. Und das hat sie auch nicht. Vielmehr fand ich es angenehm zu sehen, wie es ist, wenn da oben eine Frau ist. Aber das reicht jetzt auch wieder. Inhaltlich bin ich von Merkel enttäuscht. Die Kanzlerin hält das Steuer sehr, sehr fest in der Hand, aber sie segelt auf Sicht, ohne festen Kurs. Obwohl sie Protestantin ist, fehlt ihr die Sturheit, die etwa ein Helmut Schmidt hatte, und die ich ihr anfangs auch zugetraut hätte. Sie handelt mir nicht konsequent genug. Insbesondere gegenüber Erdoğan tritt sie mir viel zu defensiv auf. Außerdem gelingt es ihr nicht, den Bürgern in Deutschland das Gefühl zu vermitteln, sie würde ihre Gegenwartsängste wirklich verstehen.

Welche Ängste meinen Sie?

Unsere Welt befindet sich seit zehn, fünfzehn Jahren im Turbobeschleunigungsgang: die Digitalisierung, die Veränderungen in Arbeitswelt und Familienstrukturen, die Folgen der Globalisierung - wer heute sagt, dass ihn das überfordert, der wird lächerlich gemacht oder als rückständig wahrgenommen. Dabei kann einem bei dieser Geschwindigkeit tatsächlich Angst und Bange werden. Man ist noch lange nicht reaktionär, wenn man sagt: "Holla, mir geht das alles zu schnell." Dass es da eine Sehnsucht gibt nach Leuten, die Beständigkeit versprechen und sich gegen den fortschrittsbeschwipsten Zeitgeist positionieren, ist ein verständliches Bedürfnis. Der Politik, aber auch den Medien gelingt es nicht, damit klug umzugehen.

Bietet nicht die Literatur eine Möglichkeit, mit der Unsicherheit und diesem Unbehagen produktiv umzugehen?

Sicher, das ist einer der Gründe, warum ich mich in meinem letzten Roman mit Gentechnik beschäftigt habe. Aber natürlich haben wir Schriftsteller es leichter als die Politiker: Wir haben unsere Arbeit getan, wenn es uns gelingt, dem Unbehagen nachzuspüren, die Ängste präzise aufs Papier zu bringen. Politiker müssen Lösungen vorschlagen.

Eine Partei, die zumindest versucht, auf die Unsicherheit und Überforderung vieler Menschen zu reagieren und aus ihnen politisches Kapital zu schöpfen, ist die AfD.

Indem sie simple Lösungen verspricht, die natürlich nicht funktionieren. Ich glaube, die große AfD-Welle ist inzwischen durch, der momentane Zustand der Partei ist lausig, wie man auch auf dem Parteitag gesehen hat. Einerseits fehlt ihr - zum Glück - eine starke Führungsfigur. Andererseits hat ihr der Trump-Schock geschadet. Die Welt sieht ja gerade, dass es nichts bringt, aus einem Protestgefühl heraus eine rabiate Laienspielgruppe an die Macht zu wählen. Statt der versprochenen Stärke erleben die Amerikaner vor allem eins: Inkompetenz und Chaos. Vermutlich ist es das Einzige, wofür wir Trump dankbar sein sollten: Dass er den Unzufriedenen in Europa die Illusion nimmt, es wäre eine gute Idee, sein Kreuz aus Zorn beim Lautesten zu machen.

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Thea Dorn, geboren 1970 in Offenbach am Main, ist Schriftstellerin und Moderatorin, seit Kurzem auch regelmäßig im "Literarischen Quartett". In ihren Essays und Büchern ergründet sie die politische Kultur und die Gesellschaft in Deutschland, zum Beispiel in "Ach, Harmonistan" oder "Die deutsche Seele". Zuletzt erschien von ihr der Roman "Die Unglückseligen" (Knaus-Verlag).

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