Wahl-Thesentest: Analyse nach Region:Gesetzestreue Bremer, quotenkritische Bayern

Bayern, so das Klischee, ist konservativer als Ostdeutschland. Schlägt sich das auch in den Antworten des Wahl-Thesentests nieder? Die Daten nach Bundesländern auszuwerten, ist statistisch heikel, aber spannend. Ergebnisse zu auffälligen Unterschieden zwischen den Bundesländern.

Von Oliver Klasen

"Mir san mia", so drücken es manche Bayern aus und meinen damit, dass der Menschenschlag in dieser Ecke Deutschlands einen ganz eigenen und speziellen Charakter hat. Was für Bayern gilt, gilt auch für andere Regionen: Von Flensburg bis Konstanz, von Aachen bis Cottbus, die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielschichtiges Land, mit unterschiedlichen Mentalitäten, Kulturen und regionalen Identitäten. Spiegelt sich das auch in der Haltung von Politkern wider? Dieser Frage wollten wir mit Hilfe der Daten aus dem Wahl-Thesentest nachgehen.

Die Daten nach Bundesländern auszuwerten, ist heikel, aber spannend. Heikel, weil in manchen Ländern zu wenige Abgeordnete den Wahl-Thesentest mitgemacht haben; in Mecklenburg-Vorpommern etwa fehlt die ganze CDU, weshalb das Land in der Statistik nun zu linken Positionen neigt. (Die Karte zur Antwortquote zeigt die Details; wenn sie unter 20 Prozent liegt, weisen wir eigens darauf hin). Um die Ergebnisse zu entzerren, haben wir immerhin die Position jedes Abgeordneten danach gewichtet, welchen Anteil seine Partei an den Landtags- und Bundestagsabgeordneten des jeweiligen Bundeslandes hat. So ist sichergestellt, dass ein Land nicht SPD-lastig aussieht, nur weil dort besonders viele SPD-Politiker bei unserer Umfrage mitgemacht haben: Ihr Gewicht wird dann heruntergerechnet.

Spannend ist die Auswertung dennoch, weil trotz aller Unzulänglichkeiten auffällige Unterschiede zwischen den Bundesländern zu erahnen sind - etwa beim Protest gegen Hartz IV im Osten. Oder bei der zögerlicheren Haltung gegenüber Sterbehilfe und anderen modernen gesellschaftlichen Fragen im eher konservativen Süden. Klicken Sie sich durch die Karten und entdecken Sie selbst Unterschiede. Vergessen Sie aber nicht: Solche Trends folgen immer auch klar den Parteipräferenzen der jeweiligen Regionen. Die Ergebnisse in Bayern etwa sind vor allem dadurch geprägt, dass die CSU gut die Hälfte der Landtags- und Bundestagsabgeordneten hier stellt. Diese Abgeordneten beeinflussen maßgeblich die Gewichtung und den Durchschnitt in der Auswertung.

Fast 600 Abgeordnete aus Bund und Ländern haben beim Wahl-Thesentest von Süddeutsche.de mitgemacht. Sie hatten wie Sie die Möglichkeit, zu den von uns formulierten Thesen auf einer Skala von 0 ("Ich stimme absolut nicht zu") bis 100 ("Ich stimme absolut zu") Stellung zu beziehen. Die Zwischenstufen "Ich stimme eher nicht zu", "Ich bin unentschieden" und "Ich stimme eher zu" wurden zur Berechnung durch die Werte 25, 50 und 75 ersetzt. Anschließend berechneten wir nach Bundesländern gruppiert einen Durchschnittswert, das sogenannte arithmetische Mittel, also Durchschnittswerte. Je höher dieser Mittelwert, desto größer ist im jeweiligen Bundesland die Zustimmung zu einer bestimmten These. Hier eine Übersicht über die regionalen Unterschiede.

In Deutschland hängt der Erfolg im Schulsystem sehr von der sozialen Schicht und von der Herkunft ab, das war die wichtigste Erkenntnis aus der Pisa-Studie 2001. Seitdem haben Bildungspolitiker einiges verändert am System - mehr Ganztagsschulen, kleinere Klassen, achtjähriges Gymnasium - aber jedes Bundesland hat nach eigenem Gusto reformiert. Entsprechend variiert bei den Abgeordneten im Wahl-Thesentest die Einschätzung zur Gerechtigkeit im Bildungssystem sehr, je nachdem in welchem Bundesland gefragt wird. Es geht um die Aussage "Unser Bildungssystem gibt allen eine ausreichende Chance". Während bayerische und hessische Politiker hier mit 44 von 100 Punkten zustimmen, kommen ihre Kollegen in Berlin nur auf einen Durchschnitt von 25 Punkten auf der Zustimmungsskala. Auch die Abgeordneten aus Schleswig-Holstein (27 von 100 Punkten), Thüringen (29), Brandenburg (20) und Mecklenburg-Vorpommern (15 Punkte) sehen große Gerechtigkeitsdefizite.

Markante Unterschiede bei Hartz-IV, Tempolimit und Pflicht-Frauenquote

"Der Hartz-IV-Satz ist für einen Teil der Bezieher zu niedrig", diese These kommt bundesweit im Mittel auf 68 von 100 Punkten auf der Zustimmungsskala. Während aber zum Beispiel die Abgeordneten in den westdeutschen Ländern Saarland (56 Punkte) Hessen (57 Punkte) mit dieser Aussage zurückhaltender sind, liegen die Zustimmungsraten in Ostdeutschland höher, vielleicht weil hier der Anteil der Hartz-IV-Empfänger an der Bevölkerung größer ist, vielleicht auch, wenn der zahlenmäßige Anteil an Politikern der Linkspartei größer ist.

Sowohl Brandenburg als auch Sachsen-Anhalt und Berlin kommen hier auf Werte um die 80 Punkte, Mecklenburg-Vorpommern sogar auf 96 Punkte, allerdings ist dieses Land in unserer Auswertung aufgrund der fehlenden CDU-Abgeordneten, wie gesagt, etwas sehr "linkslastig".

Auffällig sind die Differenzen in der Verkehrspolitik auch in zwei anderen Politikfeldern: bei der Verkehrspolitik und bei der Frage nach einer verpflichtenden Frauenquote in großen Unternehmen. Eine PKW-Maut findet zum Beispiel im Saarland (25 von 100 Punkten) und in Mecklenburg-Vorpommern besonders wenig Zustimmung, ein generelles Tempolimit auf Autobahnen hat unter den Politikern in Berlin und Sachsen-Anhalt (jeweils 63 Punkte) die stärksten Befürworter, während es wiederum im Saarland (33 Punkte) eher unbeliebt ist.

Relativ groß ist die Bandbreite auch bei der Zustimmung für eine verpflichtende Frauenquote. Sie kommt im bundesweiten Schnitt auf einen Zustimmungswert von 65 Punkten kommt. Der Quote gegenüber aufgeschlossen zeigen sich die Abgeordneten in Berlin (72 Punkte), Sachsen-Anhalt (75) und Bremen (77) Punkte. Unterdurchschnittlich ist die Zustimmung in Hessen (49), im Saarland (56) und in Bayern (57),

Skepsis in Bayern bei Sterbehilfe - auch bei SPD und Grünen

Interessant sind schließlich die Unterschiede bei den moralischen Fragen. Während im bundesweiten Durchschnitt die Zustimmung zu der These "Deutschland sollte sich der Sterbehilfe stärker öffnen" bei 48 von 100 Punkten liegt, stimmen bayerische Abgeordnete hier nur mit 38 von 100 Punkten zu.

Zwar macht sich in diesem Wert der zahlenmäßig große Einfluss der CSU bemerkbar, trotzdem: Auch bayerische SPD-ler, Grüne und Liberale sind der Sterbehilfe gegenüber weniger aufgeschlossen als ihre Parteifreunde in anderen Bundesländern. So liegt etwa bei den bayerischen Grünen der Zustimmungswert bei 40 Punkten, im ähnlich konservativ geprägten Baden-Württemberg sind es 64 Punkte.

Politiker gaben gerne Kommentare

Auch in puncto Gesetzestreue gibt es regionale Unterschiede. Im Bundesdurchschnitt kommt der Satz "Ich gehe gelegentlich bei Rot über die Ampel, wenn nichts passieren kann" auf einen Zustimmungswert von 59 Punkten. Überdurchschnittlich stark bekennen sich die Rotsünder unter der Abgeordneten in Brandenburg (68 Punkte), Rheinland-Pfalz (67) und Berlin (66), während in Bremen (44) und Mecklenburg-Vorpommern (48) die Neigung, diese Verkehrsregel zu brechen, eher gering ist.

Besonders häufig nutzen die Politiker bei dieser Frage die Möglichkeit, einen zusätzlichen Kommentar abzugeben - und sie relativieren ihre Aussage, nur nachts, nur wenn mich keiner sieht, nur im Ausnahmefall. "Ich schaue vor allem, ob Kinder oder Jugendliche in der Nähe sind. Außerdem gehe ich - wenn überhaupt - nur bei den Ampeln bei Rot, die ewig lange zum Umschalten brauchen", schreibt zum Beispiel ein grüner Abgeordneter - und ein anderer beruft sich auf eine höhere Autorität, wenn er bei Rot über die Ampel geht: "Zitat unseres ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss: Es kommt nicht auf den Buchstaben, sondern auf den Sinn des Gesetzes an".

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