Und es gibt sie doch, die klare Mehrheit im Lande Nordrhein-Westfalen: Stolze 76 Prozent des Publikums in der Wahlarena 2010 wollten noch vor der Landtagswahl am 9. Mai wissen, welche Koalition die Spitzenkandidaten der fünf Parteien eingehen möchten. Ist Rot-Rot-Grün machbar? Passen Union und Grüne zusammen? Oder gibt es eine große Koalition?
Die Elefantenrunde der Spitzenkandidaten der fünf großen Parteien im Westdeutschen Rundfunk (WDR) war schon beinahe vorüber, als die äußerst zurückhaltenden Moderatoren Jörg Schönenborn und Sabine Scholt zu diesem Thema kamen. Eine Spur von Panik in den Augen der Journalisten war nicht zu übersehen - die 90-minütige Sendezeit war zu diesem Zeitpunkt schon mehr als ausgereizt. Und die jüngsten Ergebnisse der großen Umfrageinstitute wiesen bis zuletzt nicht darauf hin, dass sich die Politiker in dieser Frage schnell einigen würden.
Die Angriffslust der Hannelore Kraft
Zu allen vorherigen Themen - Bildung, Arbeitsmarkt, Haushaltslage - hatte es heftigen Streit gegeben. Wer im TV-Duell zwischen Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und Hannelore Kraft (SPD) am vergangenen Montag die Schärfe vermisst hatte, der kam nun voll auf seine Kosten.
Es war vor allem die SPD-Frau, die diesmal agierte, als gebe es für jeden Zwischenruf eine Wählerstimme extra. In den jüngsten Wahlumfragen liegt sie mit ihren Wunschpartnern von den Grünen etwa auf gleicher Höhe mit Schwarz-Gelb - da kann sie jeden Zugewinn gebrauchen.
"Was tun Sie den Kindern an?", fauchte Kraft in Richtung des Ministerpräsidenten, der die Beibehaltung des dreigliedrigen Schulsystems aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium befürwortet, während Rot-Grün schrittweise eine "Gemeinschaftsschule" einführen will. Rüttgers solle "mal in die Zeitung gucken", dann werde er schon sehen, "wie viele Eltern schon heute Nachhilfelehrer suchen". In der Debatte um mögliche Steuersenkungen herrschte Kraft ihren Kontrahenten an: "Wer soll Ihnen eigentlich noch glauben, Herr Rüttgers, nachdem Sie die Hoteliers mit Geschenken bedacht haben?"
Im TV-Duell am Montag hatte sich Kraft vornehm zurückgehalten, sachlich und auch ein wenig umständlich argumentiert. Auf Rüttgers' wenige Angriffe hatte sie mit Diplomatie und einem Lächeln reagiert. Die CDU hatte daraufhin einen "Punktsieg" des Ministerpräsidenten ausgerufen. Diesmal kämpfte die Herausforderin mit härteren Bandagen: Immer wieder rief sie dazwischen, wenn ihr eine Argumentation des bemüht landesväterlichen Rüttgers nicht passte. Eine Zermürbungstaktik, die Wirkung zeigte.
"Frau Kraft, Sie sind jetzt schon die ganze Zeit in Alarmbereitschaft", klagte Rüttgers, nachdem ihn die SPD-Frau mehrfach unterbrochen hatte. Als sich Moderator Schönenborn - bei ARD-Wahlsendungen als Zahlenfuchs bekannt - herausnahm, eine Statistik des Ministerpräsidenten zu korrigieren, beschwerte sich Rüttgers: "Herr Schönenborn unterbricht mich, Frau Kraft unterbricht mich. Ich weiß gar nicht, was das soll."
Als sich der Moderator später gar erdreistete, Rüttgers eine Replik auf Krafts Vorwurf, er habe Hoteliers beschenkt, aus Zeitgründen zu verwehren, monierte der Ministerpräsident: "Das hat mit Fairness nichts zu tun."
Anders als am Montag verlor CDU-Generalsekretär Andreas Krautscheid in einer Pressemitteilung nach der Sendung kein Wort zur Leistung des Amtsinhabers. Hannelore Kraft konnte sich hingegen von der SPD für einen "zupackenden" Auftritt feiern lassen. Das lag auch der Frau an ihrer Seite: Die grüne Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann ging auf Rüttgers los, als habe es die Diskussion um eine schwarz-grüne Koalition - die im Gegensatz zu Rot-Grün und Schwarz-Gelb eine Mehrheit hätte - nie gegeben.
Der CDU warf Löhrmann vor, gemeinsam mit der FDP eine "Schulkriegsauseinandersetzung" angezettelt zu haben. Rüttgers mache "Stimmung mit alten Parolen". Der Ministerpräsident bekämpfe die Gemeinschaftsschule, wie er das früher auch bei der Gesamtschule getan habe: "Das haben Sie doch auch irgendwann aufgegeben."
Auf der nächsten Seite: Pinkwart punktet nur vereinzelt - der linke Spitzenkandidat ist belustigt.
Gegen das duo infernale an seiner Seite kam Rüttgers kaum an - zumal sein Koalitionspartner nur in wenigen Szenen punkten konnte. Für Aufsehen sorgte Andreas Pinkwart von der FDP zunächst mit der Bemerkung, viele Handwerker würden "zu Recht" mehr verdienen als Akademiker. Applaus vom zahmen Studiopublikum, das der WDR repräsentativ hatte zusammenstellen lassen, bekam er auch für die Warnung: "Wer die Axt an die Gymnasien legt, legt die Axt an den Wissenschaftsstandort NRW."
Als Pinkwart vorrechnete, dass die SPD keinesfalls im gewünschten Zeitraum die Studiengebühren wieder abschaffen könne, fügte er Hannelore Kraft die einzige Niederlage des Abends zu - die Herausforderin konnte an dieser Stelle ausnahmsweise nicht schlagfertig kontern.
Rüttgers gegen Steuersenkungspläne der FDP
Wenn Rüttgers in dem rot-grünen Elefanten-Getöse doch einmal zu Wort kam, nutzte er Motive der Rote-Socken-Kampagne, die die CDU seit Wochen verfolgt. Der Ministerpräsident warnte vor dem "Schulchaos", das einsetzen werde, sobald die Gemeinschaftsschule eingeführt werde: "Niemand kann mehr von einer Stadt in die andere umziehen, weil die Schulformen nicht übereinstimmen." Eine "ganze Generation von Schülern" werde so "in eine Unruhesituation" gebracht.
Zudem präsentierte sich Rüttgers als Sozialpolitiker, der schon 2004 gegen Hartz IV gekämpft habe - "ganz alleine", wie er betonte. Die von der FDP angestrebten Steuersenkungen im Bund seien in den kommenden zwei Jahren mit ihm nicht zu machen - zum Wohle der schon jetzt verschuldeten Kommunen.
Pinkwart nahm die Distanzierung seines Koalitionspartners regungslos zur Kenntnis - beim Zuschauer drängte sich umso mehr die Frage auf: Wer kann in NRW mit wem regieren?
In einer Art Schlussplädoyer gingen die fünf Spitzenkandidaten darauf ein - und hielten sich erstaunlich kurz. Wolfgang Zimmermann von der Linkspartei war bis dato nur in Erscheinung getreten, weil er sich davon "belustigt" zeigte, dass ihn Rüttgers als "Extremist" bezeichnet hatte. "Den Wähler interessiert nicht, ob wir vom Verfassungsschutz beobachtet werden", sagte Zimmermann - wiederum zur Belustigung der übrigen Politiker.
Zur Frage einer möglichen Koalition sagte Zimmermann, er fordere Kraft und Löhrmann auf, eine Koalition mit der CDU auszuschließen: "Mit denen können Sie nichts durchsetzen. Mit uns einen Teil." Die SPD-Frau Kraft entgegnete: "Die Linke will gar nichts umsetzen, sie will populieren. Ich möchte nicht mit ihr zusammenarbeiten. Unser Ziel ist Rot-Grün. Dafür kämpfen wir."
Ministerpräsident Rüttgers vermied die Nennung der FDP und sagte, er wolle "die jetzige Koalition" fortsetzen. Es sei "keine Zeit für Experimente", NRW brauche "stabile Verhältnisse". Pinkwart warb hingegen um die Gunst der Union: "Ich teile die Meinung von Jürgen Rüttgers absolut. Wir wollen die erfolgreiche Arbeit mit der CDU fortsetzen."
Und Sylvia Löhrmann? Die grüne Spitzenkandidatin stand nicht nur in der Mitte, sie versuchte sich zum Abschluss auch als Moderatorin: "Rüttgers hält sich die große Koalition und Schwarz-Grün offen, will das aber nicht offen sagen. Und auch Hannelore Kraft hält sich die große Koalition offen, will das aber nicht offen sagen."
Mit ihrer eigenen Meinung hielt sich Löhrmann dann allerdings auch betont zurück: Eine Koalition aus CDU und Grünen sei "ein Zweierbündnis, das sehr ungewöhnlich ist und für das ich mich hier auch nicht aussprechen möchte".