Nach der Niederlage des Rechtsaußen-Mannes Geert Wilders bei den Wahlen in den Niederlanden hat Europa aufgeatmet. Ganz Europa? Nein. Ein widerspenstiges Eiland ist mit kleiner Mehrheit der Auffassung, Europa nicht zu brauchen. Das Land ist bekannt und beliebt: Großbritannien. Beliebt sind die Briten in Europa, weil sie denn doch irgendwie dazugehören, und weil niemand sich besser über sie lustig machen kann als sie selbst. Zahllos sind die Karikaturen der vergangenen Jahrzehnte, auf denen das Vereinigte Königreich als Floß dargestellt wurde, das gen Amerika treibt. Seit dem Brexit wird gefragt, ob Großbritannien nicht vielleicht wirklich abdriften kann. Es muss ja nicht nach Amerika sein.
Einige Bücher sind schon über den Brexit erschienen. Das beste stammt von Tim Shipman: "All Out War" (William Collins, 2016). Shipman arbeitet bei der Londoner Sunday Times und kennt alle Protagonisten seit Jahren. Er kennt sie so gut, dass sein Buch 630 Seiten lang wurde, was vielleicht ein bisschen viel ist für deutsche Leser, die einfach nur wissen wollen, wie der ehemalige Premierminister David Cameron Britanniens Ausstieg aus Europa wider seinen eigenen Wunsch zuwege brachte. Da kommt Gabriel Raths "Brexitannia" (Braumüller Verlag, 20 Euro) gerade recht: Rath ist Londoner Korrespondent der österreichischen Tageszeitung Die Presse. Sein Buch erklärt, wie es zum Brexit kam; es ist viel kürzer als Shipmans Niedergangsepos, es ist konzis, gut geschrieben und besonders vor der Parlamentswahl am Donnerstag erhellend.
Wahl in Großbritannien:Die Fünf von der Brexit-Insel
Alle kennen Eiskönigin Theresa May und Gegenspieler Jeremy Corbyn. Und die Schottin Nicola Sturgeon. Doch was zeichnet die Liberaldemokraten aus? Und wofür braucht es jetzt noch die Brexit-Partei Ukip? Die wichtigsten Köpfe der Wahl.
Viele Engländer wünschen sich, als englische Nation endlich gewürdigt zu werden
Etliche britische Politiker finden, das ökonomische Modell Singapurs komme auch für ihr Land infrage: sehr niedrige Steuern, sehr wenig Sozialstaat. Finanzminister David Hammond, der eigentlich zu klug ist, um so etwas zu sagen, hat angekündigt: Wenn Europa Britannien nicht entgegenkomme in Sachen Freihandel bei gleichzeitiger Beschränkung des Rechts der Europäer in jedem EU-Land zu arbeiten, dann werde Britannien eben eine Steueroase. Anders als Singapur oder kleine Inseln in der Karibik ist Großbritannien freilich ein großes und volkreiches Land, es ist dichter besiedelt als die meisten Staaten Europas.
Das britische Sozialsystem wurde schon unter der Regierung Cameron und seinem Finanzminister George Osborne bis über die Schmerzgrenze hinaus mit Geldkürzungen in die Mangel genommen. Die Briten waren bekannt dafür, staatliche und andere Zumutungen stoisch hinzunehmen. Das ging lange gut. Nun ist es vorbei.
Kommentatoren konstatieren "eine Spaltung" des Landes: hier die Polit- und Finanzelite in London und Umgebung - dort die Bevölkerung, die nicht recht weiß, wohin mit ihrem Zorn über sinkende Sozialleistungen und zunehmende Internationalisierung auf Kosten patriotischer Werte; hier England und Wales, die gegen die EU sind, dort Nordirland und Schottland, wo große Mehrheiten zur EU gehören wollen. Das Land ist in der Tat gespalten - aber das war es immer. Gabriel Rath schließt sich diesem simplen Befund denn auch nicht an. Er zitiert Benjamin Disraeli, der schon im 19. Jahrhundert Britannien als ein geteiltes Land beschrieb, geteilt zwischen Arm und Reich. Leider haben die Wähler, vor allem die etwa 50 Millionen Engländer und die etwa sechs Millionen Waliser, ausgerechnet das Referendum über die Mitgliedschaft in der EU als Gelegenheit genommen, es ihrer Regierung heimzuzahlen.
Wahlkampf in Großbritannien:Briten im Corbyn-Fieber
Vor der Wahl am 8. Juni tragen Unterstützer das Gesicht des Labour-Chefs auf T-Shirts, Strumpfhosen und Schildern. Der 68-Jährige ist vor allem bei jungen Briten beliebt. Ein ausgefallener Wahlkampf in Bildern.
Viele Engländer wünschen sich, als englische Nation endlich gewürdigt zu werden. Vergeblich. Das wird der Brexit ihnen gewiss nicht bescheren. Der Austritt aus der EU bedeutet nur, dass London und die dort Regierenden noch wichtiger werden, als sie es schon sind. Der Brexit war ein Kabinettstückchen, das der ehemalige Premierminister Cameron dummerweise aufführte, um die britische Anti-EU-Partei Ukip sowie seine eigenen antieuropäischen Parteifreunde im Zaum zu halten. Er hatte nicht die Absicht, mehr Demokratie in Britannien einzuführen; die nationalistischen Sehnsüchte der Engländer waren ihm einerlei, sofern er sie überhaupt ernst genommen hat. Er wollte sein Amt retten. Das hat ihn sein Amt gekostet.
Cameron, das ist gewiss, wird nicht als Staatsmann in die Geschichte eingehen. Und wenn er seinen Landsleuten nicht bloß als elitärer Depp vom Eton College in Erinnerung bleibt, hat er Glück gehabt. Ziemlich genau so sieht es Gabriel Rath, nur dass er höflichere Worte findet. Er schreibt, Cameron habe sich von Anfang an der Meinung der EU-Gegner verschrieben: "Ein Muster war damit geschaffen, aus dem sich Cameron bis zum Ende seiner politischen Karriere nicht lösen konnte (oder wollte): Statt den lautstarken rechten Flügel seiner Partei in der Europa-Frage herauszufordern und in die Knie zu zwingen, machte er ein Zugeständnis nach dem anderen."
Anfangs dachten viele Beobachter, Theresa May sei eine Art zweite Margaret Thatcher, aber mit Herz
Wie geht es nun weiter mit dem Brexit? Das Cameron-Kabinett wurde ausgetauscht. Dem neuen Finanzminister Hammond wurde die Drohung mit der "Steueroase" wohl von seinen EU-feindlichen Parteifreunden eingegeben, vielleicht von Premierministerin Theresa May selbst. Sie wiederum, das ist bekannt, wird von ihren rechten Parteikollegen getrieben. Das bringt sie dann zu Sätzen wie denen vom vergangenen Januar: "Ich sage ganz klar: Kein Deal für Britannien ist besser als ein schlechter Deal für Britannien." So sprach Margaret Thatcher auch, die ihre eisig-schneidend klingenden Ansagen gern begann mit den Worten "I want to make it quite clear" - ganz klar wollte sie dies oder das feststellen.
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Youtube-Star Owen Jones ist für Hunderttausende Briten eine linke Stimme der Vernunft. Der umtriebige Aktivist erklärt, wie er junge Leute für Labour begeistern will und der Brexit die politische Debatte vergiftet.
Anfangs dachten viele Beobachter, Theresa May sei eine Art zweite Margaret Thatcher, nur eine mit Herz. Das sogenannte Herz erklärte sich aus ihrer Position als Innenministerin: Dieses Ministerium, nicht umsonst "Home Office" genannt, betrachtet sich traditionell, jedenfalls sofern Geldmangel und Zeitmangel es erlauben, als Vertretung der normalen Bürger. Mit derlei Finessen beschäftigt Rath sich zu Recht nicht: Er hält Theresa May für eine ehrgeizige Politikerin, die weiß, auf welcher Seite ihr Brot gebuttert ist. Er erinnert daran, dass sie als Innenministerin Lkw durch Stadtviertel fahren ließ, in denen viele Immigranten wohnen: "Illegal hier? Gehen Sie nach Hause oder ins Gefängnis." Für Britanniens Zugehörigkeit zur EU hat Theresa May sich erst ausgesprochen, als ihr Chef David Cameron es für dringend nötig hielt - sie hat das aber so leise gemacht, dass sie Camerons Platz einnehmen konnte, nachdem die Männer sich in Konkurrenzkämpfen verbraucht hatten.
Wie wenig Theresa May sich für konstruktive Politik und wie sehr sie sich für ihre Position interessiert, machte sie ganz und gar klar, indem sie David Davis, einen lauten EU-Gegner, zum Minister für die Abwicklung des Brexit bestimmte. Den fantasievollen, zu politischen Lügen und amüsanten Kommentaren neigenden Boris Johnson, früher Londons Bürgermeister und dann die Galionsfigur der Brexit-Kampagne, machte sie zum Außenminister. Da stehen nicht nur Deutschen die Haare zu Berge, die an den soliden Diplomaten Frank-Walter Steinmeier gewöhnt sind. Auch der Österreicher Gabriel Rath findet das durchaus seltsam.
Eingehend befasst Rath sich mit Britanniens wirtschaftlicher Lage. Er belegt, dass die heute so unerwünschten Immigranten mehr in den Staatshaushalt einzahlen, als sie zurückbekommen. Die Leute, die nach Britannien ziehen, sind in aller Regel jung, gesund und motiviert. Die britische Bevölkerung ist hingegen im Schnitt älter und kränker. Wenn Britannien die Zuwanderung beschränkt, wird sich das als Erstes für den staatlichen Gesundheitsdienst verheerend auswirken: Kaum ein Brite mag für den miserablen Lohn, der Schwestern und Pflegern gezahlt wird, in einem staatlichen Krankenhaus arbeiten.