Wahl in Großbritannien:Der wundersame Aufstieg des Jeremy Corbyn

***BESTPIX*** Jeremy Corbyn Delivers A Speech On Employment

Jeremy Corbyn gibt sich jugendlich: Während einer Wahlveranstaltung in York posiert er mit zwei jungen Frauen für ein Selfie.

(Foto: Getty Images)
  • Jeremy Corbyn hat als Spitzenkandidat der Labour-Partei die niedrigen Erwartungen mehr als erfüllt und im Wahlkampf kaum Fehler gemacht.
  • Der 68-Jährige begeistert viele junge Briten - allerdings ist offen, ob diese am heutigen Wahltag wirklich ihre Stimmen abgeben.
  • Basierend auf den Umfragewerten rechnen Experten mit einer Mehrheit für die Tories der konservativen Premierministerin Theresa May.

Von Matthias Kolb

Es war eine Nachricht, der am 4. Juni 2015 nur wenige Briten Aufmerksamkeit schenkten. "Der Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn kandidiert für den Parteivorsitz mit einem Anti-Austeritäts-Programm", überschrieb etwa der Guardian seine Meldung und informierte knapp über Corbyns Vita. Seit 1983 im Parlament, in der Fraktion weit links stehend und Befürworter von nuklearer Abrüstung.

2015 vermutete niemand, dass es Corbyn gelingen würde, Chef von Labour zu werden - und diese stolze Partei exakt zwei Jahre und vier Tage später als Spitzenkandidat in eine Wahl zu führen. Als Theresa May diese Mitte April ausrief, hoffte die konservative Premierministerin auf eine satte Mehrheit - ihre Berater rechneten damit, dass der heute 68-Jährige Labour-Chef die Sozialdemokraten weiter in den Abgrund reißen würden. Corbyn sei "unelectable", das verkünden alle Experten seit Jahren.

Doch diese Gewissheit wackelt. "Corbyn hat diese Wahl zu einem echten Wettbewerb gemacht", staunt die Financial Times, die den Altlinken naturgemäß skeptisch sieht. Und auch das Wochenmagazin Economist, das Corbyn gerne "loony lefty" nennt, gibt zu: Der "linke Spinner" hat einen taktisch klugen Wahlkampf geführt und es geschafft, die Debatte zu verändern. Anstatt über Brexit und Führungsstärke wurde über Schulen und Krankenhäuser diskutiert. Hinzu kamen die Anschläge von Manchester und London - und Mays Vorsprung wurde kleiner und kleiner. Schlechter als unter Ed Miliband 2015 wird Labour unter Corbyn wohl nicht abschneiden; Experten rechnen mit einer Mehrheit für die Tories im britischen Parlament.

Sein erstaunlicher Erfolg basiert auf jener Mischung, die ihn schon zum Parteichef machte: Corbyn verdammt die Sparpolitik der Tories und fordert einen Kurswechsel. Er wirbt für mehr Investitionen in Bildung (keine Studiengebühren) und in das Gesundheitssystem NHS, er will die Post und die Eisenbahnen verstaatlichen sowie einen Mindestlohn von zehn Pfund. All das passt zum Slogan "For the many, not the few". Finanzieren will Labour diese Wohltaten ausschließlich durch höhere Steuern für wohlhabende Bürger und Unternehmen.

Warum viele junge Leute Jeremy Corbyn bewundern

Die größte Unterstützung erhält der Senior Corbyn dabei von den jungen Briten. Zehntausende traten in die Partei ein, um ihn ins Amt zu wählen (und im Herbst 2016 nach dem Brexit darin zu bestätigen) - und sie strömen nun in Massen zu Corbyns Veranstaltungen. Wer sich mit Studenten unterhält, der hört viel Lob für den Labour-Kandidaten. "Er ist ein Mann mit Überzeugungen", sagt Orla Menzies, die an der University of Edinburgh studiert. Er wirke ehrlich und aufrichtig. All ihre Freunde nicken, als die 20-Jährige darüber klagt, dass die Medien in Großbritannien zu viel Einfluss haben: "Sie machen Corbyn in einer Tour nieder, das ist widerlich."

Diesem Eindruck ist kaum zu widersprechen: Der Daily Telegraph nennt Corbyn und seinen Schatten-Finanzminister John McDonnell die "Marx Brothers", während die Daily Mail am Vortag der Wahl Corbyn auf 13 Seiten verteufelt und das Boulevardblatt Sun von Rupert Murdoch vor einer "geheimen Gartensteuer" warnt, die der Labour-Mann plane.

Ähnlich wie beim "demokratischen Sozialisten" Bernie Sanders, der 2016 den US-Vorwahlkampf durchschüttelte, setzen Corbyns Anhänger verstärkt auf soziale Medien, um für ihren Helden zu werben - und wer diesen kritisiert, wird dort harsch kritisiert. Mit "People's Momentum" gibt es eine eigene Grassroots-Bewegung, die junge Leute erst mobilisieren und dann zum Wählen bringen will - sowohl online als auch offline. Corbyn selbst wirbt für ein tolerantes und weltoffenes Großbritannien, das Einwanderer nicht ausgrenzt - und oft ist dafür kein einziges Wort nötig, wie dieses Video zeigt:

Seine Fans mögen an Corbyn, dass er seinen Prinzipien treu geblieben ist (er lehnte den Irakkrieg vehement ab) und sehen bei Youtube begeistert ein Video aus dem Jahr 1990 an, in dem Corbyn im Parlament der Premierministerin Margaret Thatcher vorhält, dass die Armut im Land "eine Schande" sei. Wie Sanders spricht Corbyn von einer Bewegung, an deren Spitze er steht, und bei Twitter werden im Minutentakt kurze Videos gepostet, in denen der Labour-Mann die abgehobenen Eliten für deren Zynismus kritisiert.

Zuletzt ist Corbyns Popularität enorm gestiegen, von einem Wert von 42 Minuspunkten auf nur noch minus zwei. Das heißt nicht, dass die Vorbehalte abgenommen haben, aber gerade in den TV-Debatten und Interviews trat der Labour-Mann mit dem grauen Bart höflich, gelassen und ziemlich souverän auf.

Die harschen Attacken von Premierministerin Theresa May, wonach Corbyn in Sachen Brexit "allein und nackt in den Verhandlungsraum" mit der EU gehen würde, ziehen nicht mehr so recht: Der Oppositionsführer wirkt weder jähzornig noch unfähig, sich in komplexe Themen einzuarbeiten (siehe seine Außenpolitik-Rede nach dem Anschlag von Manchester). Und ihre Weigerung, sich einer TV-Debatte zu stellen, hat Mays Image der starken Anführerin angekratzt.

Die wichtigste Frage: Gehen die jungen Briten zur Wahl?

Wirklich verwunderlich ist die Begeisterung der jüngeren (und weniger wohlhabenden Briten) für Corbyns Ideen nicht. Den Rentnern geht es weiter recht gut, während die Kürzungen die Millennials treffen. Owen Jones, ein junger Youtube-Star und Aktivist für Labour, beschreibt es im Gespräch mit der SZ so: "Für die ältere Generation der Briten wurden die sozialdemokratischen Prinzipien geschützt, aber den Jungen verwehrt man diese Absicherung."

In Großbritannien existiert eine große Kluft zwischen den Wählern - und ähnlich wie beim Brexit ist das Alter entscheidend: Die über 65-Jährigen wählen mit riesigen Mehrheiten die Konservativen, während der Vorsprung von Labour bei den unter 25-Jährigen je nach Umfrage zwischen 57 und 33 Prozentpunkten beträgt. Der große Unterschied: Rentner gehen stets zur Wahl, aber bei den unter 35-Jährigen lag die Wahlbeteiligung bisher nur bei 50 Prozent.

Natürlich ist es beeindruckend, dass sich an einem Tag 453 000 junge Leute als Wähler registriert haben (Details hier): Entscheidend ist, ob diese heute einerseits überhaupt ihre Stimmen abgeben und andererseits ob dies in den richtigen Wahlkreisen geschieht. Denn im britischen Mehrheitswahlrecht (in jedem der 650 Wahlkreise siegt der Kandidat mit den meisten Stimmen) wäre auch dieses Szenario denkbar: Labour legt prozentual zu (2015 kam die Partei auf 31 Prozent) und verliert dennoch einige der 232 Sitze. Das könnte passieren, wenn die Partei Wahlkreise in Großstädten, die sie ohnehin mit klarer Mehrheit hält, noch deutlicher gewänne - und in Gegenden, in denen sie zuletzt nur knapp siegen konnte, hinter die Tories zurückfällt.

Kritik an Corbyn: zu unpatriotisch, zu schwach gegenüber Terroristen

Die Vorbehalte vieler und zumeist älterer Briten gegenüber Corbyn erklärt Jonathan Freedland, Kolumnist beim Guardian und der BBC, mit drei Punkten. In Gesprächen würden die meisten drei Dinge nennen, die sie mit dem Labour-Kandidaten assoziieren: "Er hat bei einem Gedenkgottesdienst nicht die Nationalhymne gesungen; er unterstützte die Terroristen der Irish Republican Army und er hat 2015 nach dem Terror-Anschlag im Pariser Bataclan gesagt, dass er nicht anordnen würde, Attentäter durch Scharfschützen töten zu lassen."

Von dieser Aussage aus einem BBC-Interview (Details hier) hat sich Corbyn nach den Terror-Anschlägen von Manchester und London distanziert: Er lobte bis zuletzt die Reaktion der Polizisten, die die drei Londoner Attentäter nach acht Minuten erschossen hatten. In Reaktion auf die Anschläge konnte der Labour-Kandidat mit einem Argument besonders punkten: Er kritisiert die Sparpolitik der Tories, deretwegen Tausende Polizisten entlassen wurden, und gab May als Ex-Innenministerin dafür die Schuld. Seit Tagen verspricht Corbyn, als Regierungschef mehr Polizisten auf die Straßen zu schicken, und dass es den Sicherheitskräften nicht an Ressourcen fehlen werde, um jene "zu beobachten, die morden und verstümmeln wollen".

Einen anderen Vorwurf gegen seine Person wird Corbyn dagegen schwerer los, weil er ungleich diffuser ist. Kritiker debattieren oft die Frage: Will Jeremy Corbyn wirklich Premierminister werden oder genießt er eher die Rolle des Wahlkämpfers? Hier ist er aufgeblüht und nicht nur seine Gegner sagen, dass es für ihn angenehmer sei, überall auf der Insel für seine Überzeugungen zu werben, ohne diese im Alltag durchsetzen zu müssen.

Rund um Westminister wird geraunt, dass Corbyn eine respektable und knappe Niederlage lieber wäre, deren Ergebnis einen sofortigen parteiinternen Putsch gegen ihn als ziemlich aussichtslos erscheinen lassen würde. Falls er nach einer Niederlage seine Position festigt, könnte er versuchen, auf dem Enthusiasmus des Wahlkampfs aufzubauen und bis zur nächsten Wahl 2022 im Land noch mehr für seine klassisch-linken Vorschläge werben. Ob dies seine Gegner in der Fraktion überzeugen würde, ist aber völlig offen. Denn die Parteielite steht ihrem Spitzenkandidaten nach wie vor äußerst kritisch gegenüber.

Und weil die Parteifreunde in der Politik ja oft die größten Feinde sind, ist dieses Zitat eines Corbyn-Kritikers aus der Financial Times wohl besonders aussagekräftig: "Als Person hat er etwas sehr Anziehendes. Selbst wenn man ihn hasst, muss man zugeben, dass er etwas ganz Besonderes an sich hat."

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