Süddeutsche Zeitung

Wahl in Großbritannien:Cameron regiert das Disunited Kingdom

Der unerwartete Erfolg der Konservativen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Großbritannien zerrissen ist. David Cameron sollte den Triumph des Wahlsiegs nutzen, um sich laut zu Europa zu bekennen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Auf den ersten Blick legen die Briten eine bemerkenswerte Klugheit an den Tag. Das Land und das politische System sind auf Klarheit ausgelegt. Einer hat die Mehrheit, einer regiert, einer trägt die Verantwortung - und wird im Zweifel wieder abgewählt. Insofern zeugt das Wahlergebnis vom Wunsch nach einer Rückkehr zur ungeschriebenen Verfassungsnormalität: keine Koalitionen, klare Verhältnisse.

Auf den zweiten Blick aber kann David Camerons unerwarteter Erfolg nicht darüber hinwegtäuschen, dass Großbritannien zerrissen ist. Die Briten haben nicht zwischen starken Alternativen wählen können, sondern zwischen unterschiedlichen Übeln. Cameron bot da die größte Verlässlichkeit in einem Panoptikum von Unwägbarkeiten. Aus tiefer Überzeugung werden ihm die wenigsten die Stimme gegeben haben - das erklärt die klare Spaltung der Wähler, wie sie sich in allen Umfragen zeigte. Cameron wird von einer Last-Minute-Verzweiflung profitiert haben.

Das zerfledderte politische System ist das Magenschmerz-Thema der Briten

Nur in der Hierarchie der Übel macht Cameron eine gute Figur - gemessen am Partikularismus der schottischen Nationalisten, an der Öligkeit eines Labour-Chefs Miliband, an der Konturenlosigkeit der Liberaldemokraten, an der Aussicht auf eine neue Koalition, die dem politischen System nicht taugt.

Das eigentliche Magenschmerz-Thema der Briten ist also der zerfledderte Zustand ihres politischen Systems und der politischen Landkarte. Großbritannien fehlt das Einheits-Thema, der Kleber, der das Land zusammenhält. Die Fliehkräfte sind politisch, geografisch, historisch. Camerons Sieg kann nicht darüber hinwegtäuschen: Er regiert ein Disunited Kingdom.

Muss sich Europa deswegen sorgen? Aber selbstverständlich, denn die EU braucht ein starkes Britannien, kein mit sich selbst befasstes Britannien. Europa muss sich um die Handlungsfähigkeit des Vereinigten Königreichs sorgen, um das europäische und globale Gewicht, das London einst in die Waagschale zu werfen in der Lage war. Der selbstverordnete Rückzug der letzten Cameron-Regierung aus der Außenpolitik war eines der beschämenden Kapitel seiner traurigen Premierschaft.

EU-Streit wird das zentrale Thema der neuen Regierung

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und die erbitterten EU-Streitereien vor allem im Lager der Konservativen sind da nicht nur Beiwerk. Sie werden zum zentralen Thema der nächsten Cameron-Regierung. Allerdings: Auch wenn sich die Drohungen aus kontinentaler Perspektive gruselig ausmachen - ein Austritt des Landes aus der EU ist eher unwahrscheinlich.

Cameron hat zwar ein Referendum bis spätestens 2017 versprochen - ein nicht besonders effektives Domestizierungsinstrument für seine aufmüpfigen Hinterbänkler. Aber die Kampagne dazu hat noch nicht richtig begonnen und die EU-Befürworter haben aus Rücksicht vor der Unterhauswahl bisher geschwiegen. Aber es gibt viele von ihnen, vor allem in Industrie und Finanzwirtschaft. Alle Vernunft und alle Zahlen sprechen am Ende für eine britische EU-Mitgliedschaft. Die Europäische Union ist keine Herzensangelegenheit, aber die Briten sind pragmatisch. Die europhobische Elite ist laut, aber nicht annähernd so stark, wie ihre dröhnende Rhetorik vermuten lässt.

Cameron sollte seine Siegesdividende für Europa nutzen

Cameron sollte den Triumph der Unterhauswahl nutzen, um jetzt sein Bekenntnis abzulegen. Der Premier ist ein EU-Befürworter - das sollte er auch laut sagen, verbunden mit der Aufforderung an seine Partei, dieses Thema schnell hinter sich zu lassen und ihm Gefolgschaft zu leisten. In der Euphorie des Wahlsieges wird das Europa-Bekenntnis den Tories leichter fallen als im Tränental der nächsten Legislaturperiode in zwei Jahren.

Fatal wäre es, wenn Cameron seinen Wahlsieg als Auftrag zum Feldzug gegen Europa interpretierte. Die Briten haben in der Unterhauswahl kein Bekenntnis für oder gegen Europa abgelegt. Die Wahl war beherrscht von einer rein innenpolitischen Agenda. Das Ergebnis sollte Cameron also nicht dazu verleiten, sich nun gegen Europa aufzuplustern. Das wäre eine taktische Fehlleistung. Nach erregten innenpolitischen Debatten liegt es nun allein an ihm, dem Europa-Thema schnell den Stachel zu nehmen.

Das Referendum soll bis 2017 abgehalten sein. Nichts spricht dagegen, die Briten erheblich früher wählen zu lassen. Cameron kann eine Siegesdividende einlösen. Er sollte sie für Europa nutzen.

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