Wahl in Großbritannien:Aufgeschreckte Tories

Die Liberaldemokraten sind stark - das könnte die Konservativen um den Wahlsieg bringen. Sie reagieren mit erstaunlichen Mitteln und erfinden die "Hung Parliament Party".

Wolfgang Koydl, London

Eine Woche vor der Unterhauswahl ist in Großbritannien eine neue Partei auf den Plan getreten. Ihr Logo - eine gelbe Galgenschlinge auf rotem Grund - ist nicht sehr attraktiv; aber die "Hung Parliament Party" soll ja auch abschreckend auf die Gefahren eines "hängenden Parlaments" hinweisen. So nennt man eine Volksvertretung, in der keine Partei über eine Mehrheit verfügt. Diese Partei wirbt denn auch nicht wirklich um Wähler. Sie ist eine Erfindung der Konservativen, die ihre Chancen schwinden sehen, nach 13 Jahren in der Opposition endlich wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Tories, Großbritannien, hängendes Parlament, David Cameron, Nick Clegg, getty

Drastisches Bild: Die Tories warnen vor der Gefahr eines "hängenden Parlaments", díe angeblich mit der Wahl der Liberaldemokraten drohe.

(Foto: Foto: getty)

Denn das Erstarken der Liberaldemokraten scheint es immer wahrscheinlicher zu machen, dass Britanniens künftiger Premier - wer auch immer das sein mag - auf Absprachen, Duldung oder gar eine förmliche Koalition angewiesen sein wird. Die Tories traf die Popularitätswelle für die LibDems unerwartet und vor allem unvorbereitet. Seit Jahrzehnten ist die Labour-Partei ihr natürlicher Gegner, und niemand hätte erwartet, dass die bisher mit spöttischer Herablassung betrachteten Liberaldemokraten zum schärfsten Rivalen erwachsen würden.

Wie oft wohl mag sich Tory-Führer David Cameron geärgert haben, dass er es war, der auf live ausgestrahlten Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten bestand und es akzeptierte, dass nicht nur er und Premierminister Gordon Brown daran teilnehmen würden, sondern eben auch LibDem-Chef Nick Clegg. Die Debatten haben nicht nur die Dynamik des Wahlkampfes verändert, sondern auch anscheinend festgefügte politische Parameter verschoben.

Denn Clegg, nicht Cameron, ging als strahlender Sieger aus den ersten beiden Auftritten hervor. Mit jeder Sendung sank die Popularität des Tory-Führers - von mehr als 50 auf unter 40 Prozent. Mehr als einmal konnte man Cameron bei der Diskussion ertappen, wie er Clegg ebenso ungläubig anstarrte wie Hamlet den Geist seines Vaters.

Der Durchbruch der Liberalen hat die Tories gezwungen, ihre Geschütze mitten in der Schlacht herumzureißen und neu zu justieren. Strategiepapiere, Plakat-Aktionen und Werbespots, welche die Sozialdemokraten zum Ziel hatten, sind Makulatur. Schlimmer noch: Cameron, der sich als jugendlich dynamische Inkarnation des von den Briten herbeigesehnten Wechsels zu präsentieren verstand, sah plötzlich alt aus neben dem unverbrauchten, neuen Rivalen Clegg.

Inhaltlich bieten die Liberalen weniger Angriffspunkte für die Tories als Labour. Cameron hat seine eigene Partei in den letzten Jahren ohnehin selbst tief in traditionell liberales Wählerterritorium geführt. Stattdessen warnen sie nun eher vor Instabilität und der Gefahr der Regierungsunfähigkeit in einem "hung parliament", in dem Politiker unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Hinterzimmer eine Koalitionsregierung auskungeln würden, die nicht den Interessen der Wähler entspräche. Eine Stimme für Cleggs Truppe, so die Botschaft, könnte dieses Szenario auslösen.

Dennoch könnte sich Cameron bald in dieser Hinterzimmer-Situation befinden, wenn er die meisten Sitze, aber keine Mehrheit im Unterhaus erringt. Clegg ist grundsätzlich zur Zusammenarbeit mit den Konservativen bereit, doch er verlangt einen hohen Preis: die Einführung des Verhältniswahlrechtes. Cameron lehnt das bisher kategorisch ab. Völlig undenkbar sei das, heißt es. Doch auch er dürfte wissen, dass das Undenkbare manchmal unvermeidlich ist.

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