Süddeutsche Zeitung

Wahl in Griechenland:Zweite Chance für den Kämpfer

Alexis Tsipras schafft das Unvorstellbare: Er unterzeichnet ein Sparpaket und gewinnt mit Syriza trotzdem die nächste Wahl. Doch alle wissen, dass die nächsten Jahre hart werden.

Reportage von Mike Szymanski, Athen

Die Herzen fliegen Alexis Tsipras zu. Sie können gar nicht anders. Manche haben Flügel und sind in Knallrot an eine der Eingangssäulen dieser Grundschule gemalt. Der ehemalige griechische Regierungschef läuft an ihnen vorbei, ohne lange Notiz davon zu nehmen. Mit großen Schritten stürmt er in das Gebäude in Athen, als müsse er nur mal schnell einen kaputten Wasserhahn reparieren. Hier ist das Wahllokal 661, der Stadtteil heißt Kypseli. Tsipras wohnt hier.

Er hat tatsächlich etwas zu reparieren. Seine Regierung ist zerbrochen. Er sagt: "Morgen ist ein neuer Tag. Heute können wir ihn gewinnen." Es geht an diesem Sonntag um einen Neuanfang.

Griechenland hat ein neues Parlament gewählt, und wie es aussieht, hat Tsipras den neuen Tag gewonnen. In den Zahlen, die nach Schließung der Wahllokale im Fernsehen präsentiert werden, liegt er vor seinem Herausforderer von der konservativen Nea Dimokratia. Als "Lügner" hatte dieser ihn noch beschimpft. Geholfen hat das nichts. Tsipras und sein Linksbündnis Syriza können also weiterregieren. Aber als eine Partei, die jetzt Sparpolitik macht.

Im Zelt der Syriza-Partei kommt keine Party-Stimmung auf. Gejubelt wird nur kurz

Syriza hat ihr Wahlkampfzelt auf dem Klafthmonos-Platz im Zentrum von Athen aufgestellt. Man könnte diesen Abend jetzt auch einen Triumph nennen. Denn Tsipras hat etwas schwer Vorstellbares geschafft. Es sieht danach aus, dass er der erste Regierungschef ist, der es geschafft hat, die Unterschrift unter einem Sparpaket politisch zu überleben. Das Land hat ja gewisse Erfahrungen mit Sparpolitik. Hilfspaket Nummer eins kostete Pasok-Chef Giorgos Papandreou 2011 die Macht. Hilfspaket Nummer zwei seinen Vorgänger Antonis Samaras von Nea Dimokratia. Das war im Januar. Tsipras aber darf bleiben.

Aber beim Syriza-Party-Zelt kommt keine Party-Stimmung auf, als sich dieser Erfolg abzeichnet. Kurzer Jubel. Ein paar "Es lebe Syriza"-Rufe. Ein Pärchen liegt sich in den Armen. Das war es dann auch schon. Was für ein leiser Sieg. Es sind fast nur Parteimitglieder hier. Am Rande, als ob er nicht wirklich dazu gehöre, steht Juan Magrelis. Er hat seine Nichte Katerina dabei. Sie jubeln nicht. "Nichts wird besser für uns in den nächsten Jahren", sagt er. Die Sparpolitik geht ja weiter. Ob er enttäuscht von Tsipras sei? "Nein", sagt er. "Tsipras hat uns gezeigt, wie die Dinge sind. Dass wir keine andere Wahl haben. Wir müssen diese Reformen machen." Und dann hört man aus seinem Mund einen Satz, den man noch oft hören wird an diesem Abend. "Er hat eine zweite Chance."

Man hat Tsipras an Wahltagen schon unsicherer erlebt als an diesem Sonntag. Als hätte er geahnt, dass diese Abstimmung für ihn gut ausgehen würde. Tsipras ist ein Spieler. Auch am 5. Juli hatte er sein Glück herausgefordert. Da hatte er die Griechen in das Referendum getrieben. Er wollte von ihnen wissen: Seid ihr für oder gegen Sparpolitik? Es war ein Druckmittel in den Verhandlungen mit den Geldgebern in Brüssel um ein drittes Hilfspaket. Tsipras hatte versprochen, die Sparpolitik zu beenden. Dann ging es plötzlich auch um diese Frage: Euro, ja oder nein?

Tsipras sah damals schlecht aus, als habe er sich mächtig verhoben. Dann machte der Herzensfänger Bemerkenswertes: Er holte sich ein klares Nein seiner Griechen zur Fortsetzung der Sparpolitik ab, um daraus dann ein Ja zu Europa abzuleiten und am Ende seine Unterschrift unter ein neues Sparprogramm zu setzen. So ein Tsipras-Anhängerherz hat viel durchmachen müssen in den vergangenen Monaten. Und sehr viele Herzen sind in dieser Zeit erkaltet. Die Zahl der Nichtwähler steuert in dieser Nacht auf einen Rekordwert zu.

Für Tsipras war es bisher immer bergauf gegangen. Diesmal aber musste er richtig kämpfen. Ein anderer hat versucht, ihm die Macht streitig zu machen. Er hat sich vor ein paar Wochen aufgemacht, um die kalten Herzen aufzuwärmen: Evangelos Meimarakis, 61 Jahre alt.

Von ihm wird wohl lange dieses Plakat in Erinnerung bleiben, das an vielen Bushaltestellen in Athen klebt. Es zeigt einen sorgenvoll dreinblickenden älteren Herren mit Schnauzer und gutmütigen Gesichtszügen. Er hat die konservative Nea Dimokratia in diesen Wahlkampf geführt. Meimarakis war nicht die erste Wahl. Er war eine Notlösung, weil die Konservativen in einer Identitätskrise stecken und Meimarakis innerparteilich zumindest für Ruhe sorgen konnte. Er ist nur Übergangsparteichef. Die Führung der Nea Dimokratia hatte ihm niemand dauerhaft zugetraut. Es wirkte wie ein Versehen, dass er nun mit Tsipras um das Amt des Premiers konkurrierte.

Wer nun meint, nur Syriza hätte sich verändert, der muss sich mal diese Partei anschauen: Seine Abschlusskundgebung hielt Meimarakis nicht auf dem stolzen Syntagma-Platz vor dem Parlament ab, sondern dort, wo die Krise besonders hingelangt hat: auf dem Omonia-Platz, ein paar Gehminuten von dort entfernt. In den Touristenhotels streicht das Personal diesen Platz gerne mal in den Stadtplänen durch, weil die Besucher dieses heruntergekommenen Athen mit Obdachlosen, Prostituierten, Drogenhändlern und Flüchtlingen besser nicht sehen sollen. Hierhin hatte Meimarakis seine Anhänger bestellt, um ihnen zu zeigen, dass sich unter Syriza wirklich nichts verbessert habe. "Tsipras kann das Land nicht retten", hatte er ihnen zugerufen. "Diese Wahl ist die letzte Chance, die uns bleibt."

Als er am Sonntag seine Stimme abgibt, beansprucht auch er den Montag für sich. Die Bürger wollten "das Graue, die Lüge und die Misere" aus ihrem Alltag verjagen. Am Abend, kurz vor 21 Uhr, muss er seine Niederlage einräumen. "Ich gratuliere Herrn Tsipras."

Der Herausforderer wirkt, als habe er Angst, das Land allein steuern zu müssen

Meimarakis hat in seiner Partei nach Kräften versucht, die Misere zu verjagen: Seine Vorgänger Kostas Karamanlis und Antonis Samaras, die ihre Mitverantwortung an der Krise tragen, dürfen nicht zu ihm auf die Bühne. Das Graue haftet dieser Partei aber immer noch an. "Wir erwarten kein Wunder", sagte Eleni Avgeri, eine Rentnerin aus dem Publikum.

Es gibt auch kein Wunder. Es gab Umfragen, die Nea Dimokratia vor Syriza sahen. Doch auf den letzten Metern des Wahlkampfes hat sich Tsipras wieder nach vorne geschoben. Im Fernsehduell war er deutlich entschlossener rübergekommen als Meimarakis. Der Herausforderer will unbedingt eine große Koalition - mit Syriza. Er machte den Eindruck, Angst davor zu haben, das Land alleine durch die kommenden Jahre steuern zu müssen. Tsipras hat keine Angst. Es geht auf 23 Uhr zu, als er den Klafthmonos-Platz erreicht. Aus den Boxen dröhnt linke Lagerfeuermusik. Jetzt ist auch ein bisschen Stimmung aufgekommen. Die Bühne ist bereitet. "Griechenland ist zum Synonym für Kampf und Würde geworden", sagt Tsipras. Sein Kampf sei noch lange nicht vorbei. Jetzt hat er sie, seine zweite Chance.

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SZ vom 21.09.2015/jasch
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