Wahl in Frankreich:"Ich bin die Kandidatin des Volkes"

Le Pen hat ihren Triumph seit Jahren vorbereitet - nun lässt sie sich als "Retterin Frankreichs" feiern. Ihre Radikalität hat auch mit einem Bombenanschlag in der Kindheit zu tun.

Von Leila Al-Serori, Hénin-Beaumont

"Es wird Zeit, das französische Volk von den arroganten Eliten zu befreien", tönt Marine Le Pen mit ihrer rauen Stimme durch den Saal. Sie macht eine dramatische Pause, die sich schnell mit tosendem Applaus füllt. An ihren dunklen Blazer hat sie ihr Symbol angesteckt, eine marineblaue Rose.

"Ich bin die Kandidatin des Volkes", ruft Le Pen und streckt ihre Arme aus, als würde sie die Menschenmenge umarmen wollen. Die 48-Jährige hat es tatsächlich geschafft. Die Kandidatin des rechtsextremen Front National (FN) zieht in die Stichwahl um die französische Präsidentschaft am 7. Mai gegen Emmanuel Macron ein - allerdings nicht auf dem erhofften Platz eins.

Sie lässt sich trotzdem freudestrahlend auf der Bühne von ihren Anhängern feiern. "Marine, Präsidentin! Marine, Präsidentin!", skandieren sie. Nicht in Paris feiert Le Pen ihren Einzug, sondern in der kleinen Arbeiterstadt Hénin-Beaumont im Norden Frankreichs, in einer umfunktionierten Sporthalle.

Die Botschaft ist klar: Die Elite zelebriert in Paris, sie hingegen ist draußen bei ihren Leuten in der Provinz. Hénin-Beaumont ist zudem nicht irgendein Ort für den Front National. Seit 2014 ist die Stadt in den Händen der Partei, sie gilt als Labor der Rechtspopulisten. Wenn die Präsidentschaftskandidatin hier feiert, will sie wohl auch sagen: "Seht her, wie wir es hier machen. Genauso werden wir es auch im Élysee-Palast machen."

Dass sie auch Präsidentin wird, daran scheint in der überfüllten Halle niemand zu zweifeln. "Wir werden gewinnen!", brüllen ihre Wähler dicht aneinandergedrängt, dann stimmen sie mit Le Pen gemeinsam die Marseillaise an, die französische Nationalhymne. Viele tragen wie sie eine blaue Rose angesteckt.

Parteiausschluss des Vaters

"Ich kann es nicht glauben", sagt der 37-jährige Philippe und hebt seine Faust in die Höhe. "Endlich holen wir uns unser Land zurück. Marine wird uns retten." Le Pen hat diesen Tag lange vorbereitet. Ihr Einzug in die Stichwahl zeigt: Sie ist längst größer als ihr Vater Jean-Marie, der den Front National in den 1970er Jahren gründete. Er provozierte mit antisemitischen Äußerungen und gab sich mit der Rolle des rechtsextremen Parteienschrecks zufrieden. Marine Le Pen hingegen wollte von Anfang an regieren.

2011 übernahm sie die Partei und wandelte sie Stück für Stück nach ihren Vorstellungen um. Dass Mitglieder öffentlich Rassismus zeigen, den Holocaust leugnen oder sich homophob äußern, wird nicht mehr geduldet. "Entdiabolisierung" nennt Le Pen ihren Kurs. Als eine Art Exorzistin will sie den Front National von seinem Image befreien. Wer nicht mitspielte, wurde suspendiert. Bestes Beispiel: Ihr Vater, den sie 2016 ausschloss.

So schaffte es Le Pen, sich für breitere Schichten wählbar zu machen. In diesem Wahlkampf rückte der Front National zudem deutlich in den Hintergrund: Schlicht "Marine" trat an, das Logo der Partei und auch der Familienname waren bei ihren Veranstaltungen kaum zu sehen.

Die 48-Jährige Le Pen hat drei Kinder, ist zweimal geschieden. Ihr Lebensgefährte ist der Parteikollege Louis Aliot. Den Großteil ihres Lebens verbrachte sie mit Politik. Seit 2004 sitzt sie im Europaparlament, 2007 verpasste sie nur knapp den Sitz in der Nationalversammlung. Bereits 2012 kandidierte sie für die Präsidentschaft, schied aber in der ersten Runde aus.

Extreme Positionen

Nun hat sie eines der besten Parteiergebnisse eingeholt, wenn auch niedriger als wohl erwartet. "Marine Le Pen hat es geschafft, ihren FN vom Stigma einer rechtsextremen, ausländerfeindlichen Partei zu befreien", schreibt Ronja Kempin in einer Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Und weiter: "Ihr größter Erfolg ist es jedoch, die Wandlungsprozesse, die die französische Gesellschaft gegenwärtig durchläuft, zu identifizieren und gezielt zu adressieren."

Die Wissenschaftlerin bezieht sich dabei unter anderem auf die wirtschaftliche und soziale Schieflage im Land, besonders im vorstädtischen Raum, der Hochburg des FN ist und von den anderen Parteien bisher nicht gezielt angesprochen wird. Ihre Positionen, wenn auch sanfter verpackt, sind aber weiterhin extrem. Sie verfolgt einen klaren antiislamischen Kurs, spricht sich gegen die "Masseneinwanderung" aus.

Sie will Einfuhrzölle zum Schutz der französischen Industrie einführen. Le Pen plant außerdem, den Euro abzuschaffen und ein Referendum über den EU-Austritt abzuhalten. Wäre es ein Kompliment für sie, als "Totengräberin der EU" bezeichnet zu werden, wurde sie 2016 einmal im Schweizer Fernsehen gefragt. Aber ja natürlich, antwortete Le Pen. Zuletzt stellte sie auch Frankreichs Mitverantwortung für die Verschleppung Tausender Juden während des Zweiten Weltkriegs in Abrede - es wirkte wie ein Rückfall in die alten Zeiten des FN.

Bombenanschlag als prägendes Erlebnis

Der Grund für Le Pens Radikalität liegt wohl in ihrer Kindheit. Die jüngste Tochter von Jean-Marie Le Pen erlebte im Alter von acht Jahren einen Bombenanschlag auf das FN-Parteibüro mit, direkt unter der Pariser Familienwohnung. Die Explosion, die sie aus dem Schlaf riss, hinterließ einen tiefen Krater im Treppenhaus. "Das war der Tag, an dem ich verstanden habe, dass Politik Gewalt ist", sagte sie später.

Nach der Schule studierte Le Pen Jura und begann eine vielversprechende Karriere als Anwältin. 1998 gab sie diesen Beruf auf und wurde in den Regionalrat von Nord-Pas-de-Calais gewählt - die Region ist bis heute ihre Hochburg. Hier liegt auch Hénin-Beaumont, das Städtchen, das sie für ihren Triumph ausgewählt hat.

"Ich rufe alle Patrioten auf, die richtige Entscheidung zu treffen. Das Überleben Frankreichs steht auf dem Spiel", lautet ihr finaler, eindringlicher Appell, bevor sie am Wahlabend die Bühne verlässt. Später kommt sie noch einmal kurz wieder. Zu den Beats von "I love Rock 'n' Roll" schüttelt sie die Hände ihrer Fans, eine riesige Traube von Journalisten begleitet sie im Zickzack durch den Saal.

Die Rechtspopulistin mag den großen Auftritt - und die großen Symbole, dafür spricht nicht nur der Ort ihrer Wahlparty. Le Pen hat für ihr Kampagnen-Hauptquartier eine besondere Adresse ausgewählt: die Rue Faubourg Saint-Honoré in Paris, Nummer 262. Diese liegt nur einen Spaziergang entfernt von Nummer 55 - dem Élysee-Palast, dem Sitz des französischen Präsidenten.

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