Wahl in Frankreich:Der Widerstand gegen den Front National bröckelt

  • Die französischen Wähler entscheiden heute, wer die kommenden fünf Jahre lang ihr Land regiert: der Sozialliberale Emmanuel Macron oder die Rechtsextreme Marine Le Pen.
  • Die meisten Franzosen wollen keinen von beiden. Beim ersten Wahlgang haben 54 Prozent für einen der anderen neun Kandidaten gestimmt.
  • Beobachter fürchten, dass viele Franzosen nicht oder ungültig wählen. Davon würde Le Pen profitieren.

Von Lilith Volkert, Paris

"Natürlich gehe ich zur Wahl", sagt Brigitte Rivarel. "Dieses Recht ist heilig!" Die Beamtin kommt gerade aus einem Wahllokal im 10. Arrondissement in Paris. "Ich habe eine ungültige Stimme abgegeben", erklärt die 60-Jährige. Le Pen sei eine Katastrophe, aber auch Macron könne sie nicht wählen. "Der macht nur PR, er hat keine Erfahrung und sein Programm ist von anderen Kandidaten zusammengeklaut." Ihr Mann steht daneben und nickt. Er hat dasselbe getan.

Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage vor der Turnhalle des Collège Louise-Michel zeigt: Neben den Rivarels gibt es einige, die so denken und handeln. Das offenbart ein großes Problem bei dieser Wahl: Zwar lag der parteilose Emmanuel Macron in den letzten Umfragen deutlich vorne. Doch der Großteil der Franzosen will weder ihn noch die Rechtsextreme Marine Le Pen im Elysée-Palast sehen. Im ersten Wahlgang haben 54 Prozent für einen der anderen neun Kandidaten gestimmt. Und der "vote utile", die Entscheidung für das kleinere Übel in der Stichwahl, tut den Franzosen diesmal offenbar besonders weh.

Beobachter fürchten, dass viele Franzosen an diesem Sonntag nicht oder ungültig wählen. Davon würde Le Pen profitieren. Die Wahlbeteiligung war um 12 Uhr mit 28,2 Prozent etwas niedriger als bei den letzten beiden Stichwahlen. 2012 hatten mittags schon 30,7 Prozent der Stimmberechtigten gewählt, 2007 waren es 34,1 Prozent.

Gegenüber dem Wahllokal hängen drei Dutzend Plakate an einer mit Graffiti besprühten Wand. Sie zeigen Marine Le Pen im Stil des "Hope"-Plakats von Barack Obama. Le Pen hat den Mund weit aufgerissen, ihre hellblauen Augen erinnern an den Musiker Marilyn Manson. Sie wirkt aggressiv. Darunter steht in Großbuchstaben "fear". Das französische Wort für Angst, "peur", hätte genauso Platz gehabt. Drückt hier ein Ausländer seine Besorgnis aus? Oder möchte ein Franzose der Welt sagen: Wir fürchten uns ja selbst vor Marine Le Pen?

Plakat Paris Marine Le Pen

Plakate gegenüber einem Wahllokal in Paris.

(Foto: Lilith Volkert)

Den Großteil der Franzosen schüttelt es bei dem Gedanken an einen Sieg der Europa- und fremdenfeindlichen Politikerin. Doch auch Macron bereitet vielen Bauchschmerzen. "Er vertritt die Finanzwelt, den kann ich nicht wählen", sagt Sandrine Becquet. Auch sie hat einen leeren Umschlag abgegeben. Macron gilt als liberal. In Frankreich ist das in weiten Kreisen ein Schimpfwort. Als Wirtschaftsminister hat er ein umstrittenes Arbeitsmarktgesetz durchgeboxt. Dem Absolventen einer Elite-Hochschule und Ex-Investmentbanker aus gutem Hause ist in den vergangenen Wochen viel Misstrauen, gar Hass entgegengeschlagen.

Als sich vor 15 Jahren Jean-Marie Le Pen und der unbeliebte Amtsinhaber Jacques Chirac in der Stichwahl gegenüberstanden, gingen Hunderttausende gegen Le Pen auf die Straße. Chirac siegte mit 82 Prozent. Diese "republikanische Front", der entschiedene Zusammenschluss aller gemäßigten Franzosen gegen den Front National, bröckelt inzwischen.

Daran ist auch Jean-Luc Mélenchon schuld. Der linke Politiker schied in der ersten Runde mit 19,6 Prozent aus. Er gab keine Wahlempfehlung für Macron ab. Seine Anhänger sollten nicht für Le Pen stimmen, zu dieser Aussage konnte er sich vergangene Woche noch durchringen. Das wird als indirekte Empfehlung verstanden, gar nicht oder ungültig zu wählen.

In Frankreich werden ohnehin vergleichsweise viele ungültige Stimmen abgegeben. Bei der Stichwahl 2012 haben 5,8 Prozent der Wähler so ihrem Unmut über die beiden Kandidaten Nicolas Sarkozy und François Hollande Ausdruck verliehen. Die ungültigen Stimmen werden zwar gezählt, gehen aber nicht in die Gesamtrechnung mit ein. Wäre das anders, hätte Hollande bei der letzten Wahl statt 51,6 Prozent nur 48,6 Prozent der Stimmen bekommen - und keiner der beiden Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht. Eine ungültige Stimme abzugeben hat also weniger politisches Gewicht als etwa Brigitte Rivarel und ihr Mann denken.

Dass es so vielen so schwer fällt, für Macron zu stimmen, hat noch einen weiteren Grund: Sie fühlen sich erpresst. Er und viele seiner Freunde hätten 2002 gegen ihre politische Überzeugung für Chirac gestimmt, schreibt der Journalist Raphaël Glucksmann. Und sich dabei geschworen, dass es das erste und letzte Mal sei. Doch nun müssten sie die "unfähige politische Klasse" schon wieder retten, weil diese in den vergangenen 15 Jahren nichts gegen den Front National getan hätten.

Glucksmann will Macron wählen. Er befürchtet aber, dass einige seiner Freunde zu Hause bleiben und darauf vertrauen, dass sich andere "die Hände schmutzig" machen, um die Republik vor Le Pen zu retten. Auch der Politikforscher Gilles Finchelstein sieht die Gefahr, dass die Kandidatin des Front National wegen der "Fahrlässigkeit" vieler wahlunwilligen Franzosen gewinnen könnte.

In den vergangenen Tagen war oft zu hören, dass die Entscheidung zwischen Macron und Le Pen so sei wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Zuletzt hat dieser Vergleich im vergangenen Jahr die Runde gemacht. Damals ging es um Hillary Clinton und Donald Trump.

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