Premier Erdogan:Aufsteiger mit Hang zum Paschatum

Die rasante Modernisierung der Türkei fasziniert nicht nur westliche Betrachter, sie gilt auch als Modell für den Nahen Osten. Dafür steht auch die Karriere von Premierminister Tayyip Erdogan, dessen Partei AKP bei der heutigen Parlamentswahl wohl siegen wird. Wie das Land, so ist auch Erdogan vor allem einer Gefahr ausgesetzt: dem eigenen Größenwahn.

Christiane Schlötzer

Hoch über der Hauptstadt, weithin sichtbar in einer Säulenhalle auf einem Hügel, ruht der Staatsgründer in einem Sarkophag. Das Atatürk-Mausoleum ist gebaute Mahnung, Pilgerstätte und Pflichtprogramm auch für eiligste Staatsgäste, und sei es im Schnelldurchlauf: Abschreiten der Ehrenformation, Kranzablage, Schweigeminute. Auch Tayyip Erdogans islamisch grundierte AKP hat es in neun Regierungsjahren nicht gewagt, an diesem republikanischen Ritual zu rütteln. Keine Atatürk-Statue wurde geschleift - und doch hat sich das Land in der vergangenen Dekade tiefgreifender verändert als in einem halben Jahrhundert zuvor.

Istanbul - Places To Visit

Die neuen Eliten des Landes tragen ihr Selbstbewusstsein zur Schau: Junge Türken vor einem Modegeschäft in der Innenstadt Istanbuls.

(Foto: Getty Images)

Die Türkei stürmt mit Aufsteigerstolz auf die Weltbühne zurück, wo sie lange Zeit nur den Kulissenschieber gab. Die Skepsis vieler Europäer gegenüber dem EU-Beitrittskandidaten hat dies bislang kaum verringert, im Gegenteil. Die Türkei bleibt vielen ein Rätsel - und ein Faszinosum zugleich.

Atatürks Reformsturm nahm vor fast 100 Jahren vieles von dem vorweg, was sich nun in den arabischen Revolutionen Bahn bricht: die Befreiung von Despotentum und religiös begründeter Herrschaft.Aber der Republikgründer bescherte seinem Land auch die Widersprüche, mit denen es bis heute lebt: Atatürk mochte die Religion nicht, gleich welche. Er sah in ihr ein Bildungshemmnis - und sich selbst als obersten Erzieher der Nation. Der Staat sollte säkular sein. Atatürks Epigonen aber machten aus seiner Lehre rasch eine eigene Religion. Und sie störte es nicht, den Islam für nationale Zwecke zu nutzen: Wer Türke ist, ist auch - sunnitischer - Muslim. Damit ließen sich Armenier, Griechen, aber auch alevitische Kurden zu inneren Feinden erklären. Die Ausgrenzung ganzer Völkerschaften gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Türkei im 20. Jahrhundert.

Atatürk war General; Erdogan - heute der mächtigste Mann des 72-Millionen-Volkes - wäre beinahe Fußballprofi ge-worden, ein Emporkömmling aus den Docklands von Istanbul, Spross einer frommen Familie. Ein "schwarzer Türke", wie sie in Istanbuls feineren Kreisen sagen; einer, der erst einmal nichts zu tun hat mit der türkischen Bürokraten- und Militärbourgeoisie. Erdogans Aufsteigerkarriere steht für den Aufbruch einer ganzen Generation fleißiger anatolischer Schwaben, die in ihren Hinterhofklitschen in Gaziantep und Kayseri nur darauf gewartet haben, dass ihr Land aus dem Tiefschlaf erwacht.Der Wirtschaftsliberalismus der AKP, der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, ist ihr Programm, die Konsumfreude der Türken ihr Glück. Aber erst die neue Außenpolitik der Türkei, die alte Feindstaaten (wie Russland, Syrien oder Griechenland) in neue Märkte verwandelte, beschert den Firmen der frommen Aufsteiger Millionenumsätze. Die neuen Eliten tragen ihr Selbstbewusstsein zur Schau: die Frauen auch mit Kopftuch.

Aufsteigergeist in Istanbul

Ihr Haupt bedeckten in den besseren Istanbuler Vierteln einst nur die Putzfrauen, heute sind hochgeschlossene Mäntel Teil des Straßenbilds, hochgeschlitzte Röcke aber auch. Besucher aus Europa sehen dies häufig mit Staunen, für arabische Augen gilt das nicht minder. Die neue Türkei übt nicht nur auf westliche Betrachter Anziehungskraft aus - auch im Nahen Osten erntet das türkische Modernisierung-Modell eine Mischung aus Neugier und Bewunderung.

Touristen aus Berlin und London suchen und finden in Istanbul den Charme des Orients, Gäste aus Abu Dhabi oder Dschidda eher die Freiheit des Flanierens am spektakulär illuminierten Bosporusufer. Seitdem die Türkei vor zwei Jahren den Visumzwang für Länder wie Syrien, Jordanien und Libanon aufhob, ist sie zum populärsten Urlaubsziel für die meisten nahöstlichen Nationen geworden.

"1001 Nacht" heißt eine türkische TV-Serie - auch sie ein Exportschlager. Die Männer in diesem und vielen anderen neo-osmanischen Liebesdramen tragen Drei-Tage-Bärte und teure Anzüge, die Frauen offenes Haar. Man lebt und leidet in großzügig möblierten Villen. Der emotionsgeladene Kulturexport erreicht saudische Herzen ebenso wie griechische.

Istanbul, die Metropole mit geschätzt 17 Millionen Einwohnern, ist die stärkste Wirtschaftslokomotive des Landes. Die Stadt ist Riesenwarenhaus, Dienstleistungsdorado und seit jüngstem auch Partymaschine. Die Jugend der Welt strömt in die weiß bestuhlten Dachgärten von Beyoglu, in das herausgeputzte Zentrum der Brückenstadt zwischen Europa und Asien. Erstbesuchern entschlüpft beim Blick auf Yachten und Yalis, die romantischen Holzhäuser am Ufer, ein entzücktes "Oh". Immer neue Galerien und Museen wetteifern um ein verwöhntes Publikum. 30 private und staatliche Universitäten rivalisieren in der Stadt miteinander, aber die besten Studenten kommen aus dem weiten Osten: Sie bringen den Aufsteigergeist mit. Das Jugendreservoir der Türkei ist riesig - die Arbeitslosigkeit der Jungen jedoch auch. Daran hat der Aufschwung bislang wenig geändert.

Dennoch sagen alle Umfragen: Die AKP wird am Sonntag erneut die Wahlen gewinnen. Es geht nur noch darum, wie groß ihre Mehrheit ausfällt. Davon hängt ab, ob sie der Türkei allein eine neue Verfassung vorschreiben kann, oder ob sie dafür die Opposition und das Volk braucht. Die gegenwärtige Verfassung atmet noch den Geist des Militärputsches von 1980. Die will eine Mehrheit ändern. Aber für Erdogans Gegner ist es eine Horrorvorstellung, dass der Premier die Türkei - frei nach französischem Vorbild - in eine Präsidialrepublik verwandeln könnte und später dann selbst Präsident wird.

Menetekel für Größenwahn

Fast zehn Jahre absolute AKP-Regierung waren bereits eine Dekade der Tabubrüche: Es darf nun Kurdisch gesprochen werden, die dunklen Jahre von Folter und Polizeiwillkür sind Gegenstand von Spielfilmen, frühere Putschgeneräle und solche, die es noch werden wollen, müssen die Justiz fürchten. Aber die innere Versöhnung des Landes ist der AKP nicht gelungen. Erdogans Selbstbewusstsein, seine stets Kopftuch tragende Frau Emine, die Fruchtsaft statt Whisky trinkenden AKP-Kader, die Beschneidung der Macht des Militärs: All das ist für die Gegner des Premiers eine Provokation.

Die Spaltung der Gesellschaft reicht tief. Erdogan wird unterstellt, er wolle den Laizismus abschaffen. Eine Partei, die sich den Gottesstaat nach iranischem Modell auf die Fahnen schriebe, hätte in der Türkei allerdings keine Mehrheitschance. Aber Erdogan hat erkennbar Geschmack am Paschatum gefunden; seine Partei muss sich mit Korruptionsvorwürfen herumschlagen - fast schon so häufig wie all jene Vorgänger, die sie 2002 mit ihrem Erdrutschsieg aus dem Parlament fegte.

Der von Atatürk und seinen Anhängern einst geschaffene Zentralstaat ermöglicht nun auch der AKP jene unumschränkte Macht, die sie einst so kritisierte. Der Kemalismus kehrt als Bumerang zu den türkischen Reformer zurück. Auch die wenig demokratische Zehn-Prozent-Hürde im Parlament hat die AKP beibehalten. Erdogan mag keine Kritik an seiner Person in den Medien - und immer weniger Rat aus den eigenen Reihen.

Künstler und Intellektuelle sehen schon schwarze Wolken aufziehen: "Overdrive" heißt der Film der jungen Türkin Aslihan Ünaldi. Sie zeigt, wie Istanbul an seinem eigenen Erfolg und der neureichen Geldgier erstickt. Auf der Istiklal, der zentralen Fußgängerstraße, wo man schon vor einer Weile die Bäume entfernt hat, damit der Strom der Käufer und Vergnügungssucher besser fließen kann, wurde jüngst eine neue Shopping-Mall im Zuckerbäckerstil eröffnet: viel Gold, und alles viel zu üppig. Neben den Bauschönheiten aus dem 19. und 20. Jahrhundert wirkt das riesenhafte Gebäude wie ein Menetekel: für Größenwahn.

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