Wahl in der Türkei:Erdoğan hat ausgeherrscht

  • Der türkische Staatschef Erdoğan wollte sich durch die Parlamentswahl zum Superpräsidenten befördern lassen. Jetzt reicht es seiner Partei AKP nicht einmal mehr zur Regierungsmehrheit.
  • Offenbar hat Erdoğan die Zustimmung zu seiner Person bei den türkischen Wählern überschätzt.
  • Gewinner der Wahl ist vor allem die pro-kurdische Partei HDP. Sie hat durch ihren Einzug ins Parlament eine verfassungsändernde Mehrheit für die AKP verhindert, obwohl Erdoğan sie im Wahlkampf zum Feindbild ausgerufen hatte.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Am Ende dieses Wahlkampfes in der Türkei stehen ein mächtiger Staatsmann mit Ekel vor kleinen Tieren und eine kurdische Minderheit im Land mit großem Kummer und großer Hoffnung. Das ist der Spannungsbogen, vor dem am Sonntag 54 Millionen Türken zur Wahl eines neuen Parlaments aufgerufen waren. Eine Schicksalswahl, wirklich? Unbedingt!

Kurz vor halb acht am Abend. Im Fernsehen laufen die ersten Ergebnisse. Die Macht der AKP ist gebrochen. Die Alleinregierung: weg. Der Traum von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, sich nun bald zum Superpräsidenten befördern zu lassen: in weiter Ferne. Gerade hat er noch die Türken wissen lassen, dass er den neuen 400 Millionen Euro teuren Präsidentenpalast brauchte, weil im alten Kakerlaken waren. Wenn es um Repräsentation geht, könne es keine Verschwendung geben. Solche Worte konnte er sich leisten - bis Sonntag.

Für Erdoğan ging es um die Superpräsidentschaft

2011 kam die von ihm gegründete AKP noch auf knapp 50 Prozent. Jetzt macht der Balken bei gerade mal 41 Prozent halt. Verschwenderisch war Erdoğan in jedem Fall in seinem Machtanspruch. Für ihn ging es an diesem Wahlsonntag darum, ob seine AKP genügend Stimmen bekommt, um ihn dann zum Superpräsidenten zu machen. Erdoğan wollte ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Er wollte sich auch formal zum Machtzentrum des Landes machen. Die Verfassung billigt ihm derzeit mehr oder weniger nur Zuschauerrechte in der Tagespolitik zu. Um eine Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen, hätte Erdoğan mindestens 330 der 550 Sitze im Parlament gebraucht. Gegen 22 Uhr sieht die Lage so aus: Mehr als ein Dutzend Sitze fehlen der AKP, um überhaupt wieder alleine regieren zu können.

Zuletzt lief es nicht so gut für seine AKP. Von den fast 50 Prozent, die die AKP bei der Wahl 2011 erreichte, war sie den Umfragen zufolge seit Monaten entfernt, so sehr Erdoğan sich auch ins Zeug legte. Er nötigte seiner Partei die Superpräsidentschaft als Wahlkampfversprechen auf. Aber die Leute zerrissen sich lieber das Maul darüber, wie die AKP das Geld zum Fenster rauswarf. 1,14 Milliarden Euro für Dienstwagen der Regierung, das waren am Ende nur noch "Peanuts". Von den fetten Jahren in der Wirtschaft hatte zuletzt nur noch eine Elite profitiert.

Mit dem Rollstuhl ins Wahllokal

Die Sieger sitzen heute woanders. Eine Türkei-Karte erscheint im Fernsehen. Der Osten des Landes erscheint in Grün. Das ist die Farbe der HDP, der Kurdenpartei. Sie peilte die Zehn-Prozent-Hürde an, die eigens in der Türkei geschaffen wurde, um Parteien wie die HDP aus dem Parlament herauszuhalten. Nun steht vorne die Zwölf. Mindestens 75 Abgeordnete bedeutet das. Das Parlament bekommt eine vierte Partei. In ihren Händen lag Erdoğans Schicksal. Nicht nur Erdoğan hat auf alles oder nichts gesetzt. Auch diese kleine, lebendige Partei, die mehr will, als nur kurdische Interessen zu vertreten.

Aus ihren Hochburgen im Osten des Landes machten am Sonntag gespenstische Bilder aus den Wahllokalen die Runde. Ein Mann, von oben bis unten in Mullbinden eingewickelt, wirft seinen Stimmzettel in die Box. Man erkennt nur Augen und Mund. Ein anderer Mann, mit Gips an beiden Beinen, kommt im Rollstuhl ins Wahllokal gefahren. Sie waren am Freitag bei der Abschlusskundgebung der HDP in Diyarbakır, als dort kurz hintereinander zwei Sprengsätze hochgingen. Mindestens drei Menschen haben dabei ihr Leben verloren, mehr als 200 wurden verletzt. Der 59-jährige Sabahattin Bekçi sagte einem Reporter der Hürriyet Daily News: "Meine beiden Beine sind gebrochen. Ich wäre aber auch zur Wahl gegangen, wenn man sie mir abgerissen hätte." So war hier die Stimmung in den Tagen vor der Wahl.

Die HDP war für Erdoğan ein Staatsfeind geworden

In der HDP-Anhängerschaft machte man die Regierung mitverantwortlich für die Anschläge. An keiner anderen Partei haben sich Erdoğan und seine AKP so sehr abgearbeitet wie an dieser. Die HDP war für Erdoğan ein Staatsfeind geworden. Weit mehr als 100 Angriffe gab es auf die kleine Partei im Wahlkampf. "Mörder Erdoğan" riefen sie in der Nacht des Anschlags durch die Straßen von Diyarbakır.

Selahattin Demirtaş, Vorsitzender der HDP, hat die Partei so weit gebracht, dass sie über die Zukunft des Landes mitbestimmt. Eigentlich hatte Erdoğan den Leuten eine "neue Türkei" versprochen. Demirtaş formt sie mit. Er ist 42 Jahre alt. Ein Charismatiker. Am Freitag, nach dem Anschlag, musste er Tröster sein. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, appellierte er an die wütende Menge.

Wählen gehen! Demirtaş ging in Istanbul abstimmen, in einer Mittelschule im asiatischen Teil der Stadt. "Egal wie die Wahl ausgeht, niemand soll die Hoffnung verlieren", sagte er. Man möge bitte schön gut auf jede einzelne Stimme aufpassen.

Nur die Hälfte der Türken glaubte an eine faire Wahl

Die Bürgerinitiative Oy ve Ötesi kümmerte sich darum. Der Name bedeutet so viel wie "Stimme und mehr". Sie hatte an diesem Sonntag Zehntausende freiwillige Wahlbeobachter landesweit im Einsatz. Fast nur noch die Hälfte der Türken glaubte, es werde bei dieser Abstimmung fair zugehen, ergab eine Umfrage.

Aber an diesem Ergebnis war nicht mehr zu rütteln. Die Oberbürgermeisterin von Diyarbakır, Gültan Kışanak, selbst HDP-Politikerin, sagte der Süddeutschen Zeitung schon am Nachmittag: "Wir werden die Zehn-Prozent-Hürde auf jeden Fall überschreiten." Auch sie war im Krankenhaus bei den Opfern. Ein Patient, dem ein Bein amputiert werden musste, habe sich mit seinem Arzt gestritten, weil er nicht wählen gehen konnte.

"Ich glaube, ich kriege meine Augen nicht mehr auf", sagt Feleknas Uca, Deutschkurdin und HDP-Kandidatin für die Wahl. Seit 24 Stunden hat sie nicht geschlafen, als man sie am Telefon erreicht. Sie stand auf der Bühne, als die Sprengsätze hochgingen. Die Nacht verbrachte sie bei den Verwundeten. "Was machst du hier? Geh' und mach Wahlkampf", sagten sie. Deshalb steht sie am Samstag und Sonntag schon wieder auf der Straße. Es hat sich gelohnt. Sie kommt ins Parlament.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: