Süddeutsche Zeitung

Wahl in der Türkei:Der verhinderte Superpräsident

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Erdoğan war angetreten, die Türkei zu reformieren. Stattdessen hat er einen Keil in die Gesellschaft getrieben. Den Kurdenkonflikt kann er jetzt nicht mehr vom Tisch wischen.

Kommentar von Mike Szymanski

Kleine Kurdenpartei bremst Erdoğans Machthunger

Die Wahl in der Türkei verändert das Land. Die Spannungen, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan innerhalb von wenigen Monaten aufgebaut hat, drohten es zu zerreißen. Nun bremst die kleine Kurdenpartei HDP Erdoğans Machthunger. Statt einer Beförderung zum Superpräsidenten kann er erst mal einen Koalitionspartner für seine AKP suchen.

Erdoğan führte die Klinge gegen Armenier und Schwule, gegen Kurden und kritische Presse. Gegen den Westen. Überhaupt: Wer nicht für Erdoğan ist, ist ein Feind. Als Erdoğan sich vor einem Jahr zum Präsidenten wählen ließ, wollte er Staatsoberhaupt für alle Türken sein. Ein Bluff. Seither hat er einen tiefen Keil in die türkische Gesellschaft getrieben. Wie polarisiert das Land ist, zeigte der Bombenanschlag auf das Treffen der prokurdischen HDP in Diyarbakır zwei Tage vor der Abstimmung. Drei Menschen kamen ums Leben, weit mehr als hundert wurden verletzt. Das werden die Kurden nicht vergessen. Wieder bleibt eine Narbe.

Die Türkei geht wohl unruhigeren Zeiten entgegen

Der Staatspräsident wollte eigentlich die Türkei noch einmal neu erfinden. Dies macht jetzt die HDP. Mit künftig mehr als 70 Abgeordneten im Parlament wird auch ein Erdoğan den Kurdenkonflikt nicht mehr vom Tisch wischen können, wie er das noch kurz vor der Wahl tat. Dass eine Lösung deshalb näher rückt, ist nach dem Wahlsonntag aber nicht gesagt. Natürlicher Koalitionspartner der AKP wären die Ultranationalisten von der MHP. Mit denen wird es ganz sicher keine Aussöhnung geben. Die Türkei geht wohl unruhigeren Zeiten entgegen - Erdoğan hat nicht gelernt, Macht zu teilen.

Er hatte so hoffnungsvoll angefangen. Seine AKP begann 2002 als breite Sammlungsbewegung für eine bessere, lebenswerte Türkei. "Wir leben in einem repressiven und totalitären System" - dieser Satz stammt nicht etwa von einem Gezi-Park-Aktivisten, sondern von Erdoğan, ausgesprochen zu einer Zeit, als er noch kein Machthaber war. Seine Vision von einer modernen Türkei war in Konturen schon erkennbar, bis es Erdoğan nur noch um die Absicherung seiner Macht ging.

Die Parlamentswahl setzt nun wieder eine Zäsur - so wie bisher kann Erdoğan jedenfalls nicht weitermachen.

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