Wahl in den Niederlanden:Pragmatismus ist Trumpf

In den Niederlanden spiegelt sich die deutsche Stimmung: Man sorgt sich um den Wohlstand, den Euro und scheut Veränderungen. Davon profitieren aber nicht Populisten wie Geert Wilders, sondern ein alleinstehender Westerwelle-Verschnitt.

Matthias Kolb, Amsterdam

Die Anspannung steigt, die Tage der Entscheidung nahen. Ein großes Ereignis kündigt sich an und ist kaum zu übersehen: Die Niederlande sind im Fußball-Fieber. In allen Schaufenstern hängen orangefarbene Dekorationen und kleine rot-weiß-blaue Nationalflaggen. "Oranje", die niederländische Fußballnationalmannschaft, versucht zum wiederholten Mal, nicht in Schönheit zu sterben, sondern in Südafrika Weltmeister zu werden. Dass am kommenden Mittwoch, wenige Tage vor der WM-Eröffnung, ein neues Parlament gewählt wird, merkt man in Amsterdam kaum: Plakate mit den Spitzenkandidaten sind nur an ausgewählten Plätzen erlaubt.

Wahl in den Niederlanden: Sozialdemokrat Job Cohen und Rechtspopulist Geert Wilders bei einer Wahlkampf-Debatte im Amsterdamer Theater.

Sozialdemokrat Job Cohen und Rechtspopulist Geert Wilders bei einer Wahlkampf-Debatte im Amsterdamer Theater.

(Foto: AFP)

"Dieses Mal ist es nicht business as usual", orakelt der prominente Meinungsforscher Maurice de Hond in einem Interview. Es ist wahrlich nicht mehr wie früher im Nachbarland: Nicht die Themen Integration und Sicherheit dominieren die öffentliche Debatte, sondern die Finanzkrise und der Euro. Zwar ist die Arbeitslosigkeit mit 3,2 Prozent so niedrig wie nirgends in Europa, doch 2009 schrumpfte die Volkswirtschaft um vier Prozent - ein historischer Wert. Pragmatismus und Kreativität, typisch niederländische Tugenden, sind nun wieder gefragt in Den Haag.

Seit Wochen kennen die 16 Millionen Niederländer die Auswirkungen von Krise und Vergreisung der Gesellschaft: In den nächsten vier Jahren müssen 29 Milliarden Euro eingespart werden. So hat es das Centraal Planbureau (CPB) berechnet, eine unabhängige Expertenkommission. Das CPB ist eine niederländische Besonderheit: Seit 1983 liefern alle Parteien ihre Wahlprogramme dort ab, um ihre Wirtschaftlichkeit durchrechnen zu lassen. Dies soll die Debatte versachlichen und dem Wähler Orientierung geben. Das klarste Programm hat die rechtsliberale VVD: weniger Geld für Entwicklungshilfe und EU, Rente mit 67 und Kürzungen bei Staatsangestellten - so sollen 20 Milliarden Euro eingespart werden. Die Folge: Platz 1 in den Umfragen mit 37 der 150 Sitze.

Im niederländischen Parteienspektrum ist die VVD, der etwa EU-Kommissarin Neelie Kroes angehört, bestens positioniert, erläutert Peter Kanne vom Meinungsforschungsinstitut TNS Nipo. "VVD hat ein klares Profil: Seit 2008 drängt die Partei zum Sparen und zugleich vertritt sie in Integrationsfragen eine strenge Haltung und fordert etwa mehr Polizei", sagt Kanne. Erstaunlich sei die Popularität von Spitzenkandidat Mark Rutte: "Bisher galt er eher als Schwachpunkt der Partei", analysiert der Demoskop. Doch der 43-jährige Rutte wirkt unverbrauchter als der christdemokratische Premierminister Jan-Peter Balkenende und in Finanzfragen kompetenter als der Sozialdemokrat Job Cohen, der vor allem auf Ausgleich setzt und in den Umfragen stagniert.

"VVD wirkt wie ein Magnet"

In den bisherigen Debatten der Kandidaten schlug sich Rutte sehr gut. Sein Credo, wonach die Niederlande nicht zu wenig Geld hätten, sondern nur die Obrigkeit zu viel Geld ausgebe, kommt gut an und trifft das weit verbreitete Gefühl, für die griechische Misere geradestehen zu müssen. "Er ist das frischeste Gesicht und seine Witze sind gut einstudiert", bilanziert Journalist Hubert Smeets vom NRC Handelsblad. Er merkt an, dass ihn Rutte stets ein wenig an Guido Westerwelle erinnere. Dass Rutte allein, also ohne eine potenzielle First Lady oder First Gentleman, lebt, stört in den Niederlanden niemand. Bisher, so verriet er vor Jahren in einem Interview, hätten alle Frauen immer mit ihm zusammen wohnen und Kinder haben wollen. Dabei, so Rutte, finde er es "herrlich", allein zu wohnen.

Peter Kanne verweist noch auf einen anderen Effekt: "VVD wirkt momentan wie ein Magnet. Das ist anziehend, denn jeder möchte gern auf der Seite der Gewinner stehen", so Kanne. Die Partei sei nun für viele strategisch denkende Wähler interessant, die sonst eher für die Partei für die Freiheit (PVV) oder CDA votiert hätten. So entsteht der momentane Verlust der Christdemokraten: Die seit 2002 regierende CDA erreicht mit 21 Sitzen knapp die Hälfte des vorherigen Ergebnisses.

Dieses Phänomen ist eine Erklärung, weshalb der Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner fundamentalen Islam-Kritik in de letzten Wochen an Zuspruch verloren hat. Im März errang er zwei große Erfolge bei der Kommunalwahl und führte mit seiner PVV sogar die Umfragen an, doch nun kommt er bei TNS Nipo nur auf 17 Sitze. Wilders und seine Ein-Mann-Partei habe in Wirtschaftsfragen eben wenig zu bieten, heißt es unter niederländischen Journalisten. Seine Parolen, sich für "Henk und Ingrid" einsetzen zu wollen - diese gewöhnlichen, anständigen Niederländer sollten nicht für "Ali und Fatima" zahlen müssen.

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Eine Prognose ist nahezu unmöglich

Es gibt aber auch andere Stimmen. Der Soziologie-Professor Henri Beunders warnt davor, Wilders abzuschreiben. Viele Bürger verschwiegen in Umfragen ihre Unterstützung für die umstrittene Partei, doch in der Wahlkabine könnten gerade die Frustrierten ihr Kreuz bei der PVV machen. Beunders lehrt an der Erasmus-Universität in Rotterdam, jener Hafenstadt, in der sich viele Probleme des Landes bündeln: Hier leben die meisten Migranten, die Arbeitslosigkeit ist höher als im Rest des Landes und dass nahe des Feyenoord-Fußballstadions die größte Moschee Europas entstehen soll, verunsichert viele.

Von Visionen keine Spur

Diese Gefühle kennt Ahmed Marcouch sehr gut. Er wurde 1969 in Marokko geboren und 2006 zum Bezirksbürgermeister in Amsterdam-Slotervaart gewählt. "Viele ältere Menschen haben erlebt, dass sie umgezogen sind, ohne ihre Wohnung zu wechseln", sagt er . "Als sie eingezogen sind, gab es andere Geschäfte und viele Niederländer. Nun schließen manche Läden, es ziehen Familien ein, die eine andere Sprache sprechen." Diese Sorgen und das Gefühl der Beunruhigung müsse die Politik ernst nehmen, fordert Marcouch, der in Slotervaart Achtungserfolge erzielt hat.

In Rotterdam führten die Kommunalwahlen im März zu einem Patt zwischen Sozialdemokraten und "Leefbar Rotterdam", der Partei des 2002 ermordeten Rechtspopulisten Pim Fortuyn. "Die Themen Sicherheit auf den Straßen und Immigration sind für viele Bürger noch immer wichtig", analysiert Beunders. Die Gesellschaft sehne sich nach Ruhe und Stabilität und wolle den Wohlstand der vergangenen Jahrzehnte bewahren, sagt der Soziologe. "Das Boot, in dem wir sitzen, soll nicht zu sehr durchgeschüttelt werden."

Er sieht wenige Unterschiede zwischen den etablierten Parteien, die alle seit 2001 konservativer geworden sein - damals betrat Pim Fortuyn die Bühne und sprach offen an, dass die Niederlande in der Immigrationspolitik lange weggeschaut und Probleme mit Geld gelöst hatten. Lediglich Wilders' PVV auf der rechten und die sozialistische SP auf der linken Seite lägen außerhalb des Mainstreams. Von Visionen sei nirgends etwas zu spüren.

Die Morde an Fortuyn sowie am Filmemacher Theo van Gogh 2004 hätten die Menschen aufgerüttelt - und noch immer herrsche eine große Nervosität. Beunders verweist auf einen Vorfall am 4. Mai dieses Jahres auf dem Dam-Platz in Amsterdam: Hunderte Zuschauer nahmen an einer Schweigeminute für die Opfer des Zweiten Weltkriegs teil, als plötzlich eine Massenpanik ausbrach und die Menschen in Richtung Hauptbahnhof stürmten. Absperrgitter wurden umgerissen, mehrere Passanten verwundet, schnell brachten Polizisten die ebenfalls anwesende Königin Beatrix in Sicherheit. "Keiner wusste, was eigentlich los war, aber alle wollten sich in Sicherheit bringen", meint der 57-Jährige. Später hieß es, dass zwei Männer die Panik ausgelöst hätten: Der eine habe laut gerufen, der andere einen Koffer abgesetzt.

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"Heute wird er in den Himmel gelobt, am nächsten Tag gekreuzigt"

Ähnlich wie der Schriftsteller Geert Mak macht auch Beunders die niederländischen Medien für diese Stimmung verantwortlich: Man hetze stets von Umfrage zu TV-Debatte und wieder zurück. Wichtige Themen wie die Euro-Krise oder auch der Untergang der Deepwater Horizon werden in den Debatten der Spitzenkandidaten nicht thematisiert, dabei könne eine solche von Menschen gemachte Umweltkatastrophe auf einer der Bohrinseln in der Nordsee passieren.

Dazu passt die öffentliche Wahrnehmung des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Job Cohen: Viele, die wie Beunders sonst nie die PvdA wählen würde, waren äußerst angetan vom Amsterdamer Bürgermeister. Doch nach einigen Patzern und Unsicherheiten werde Cohen nun viel schlechter bewertet: "Heute wird er in den Himmel gelobt, am nächsten Tag gekreuzigt - so läuft das Geschäft heute". Deswegen prophezeit Beunders auch ein besseres Abschneiden für die Christdemokraten als bisher abzusehen: "Balkenende ist stabil in seinen Popularitätswerten. Er ist da wie Helmut Kohl, der lag auch immer auf Platz sechs. Wer nie ganz oben ist, kann nicht abstürzen." Zudem findet am kommenden Dienstagabend, wenige Stunden vor der Wahl, noch mal eine TV-Diskussion mit allen Kandidaten statt - hier könne sich noch mal einiges ändern.

Die Elftal als Wirtschaftsfaktor

Eine Prognose über die neue niederländische Regierung ist nahezu unmöglich: Da es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, genügen bereits 0,66 Prozent der Stimmen für einen Sitz. Momentan sind zehn Fraktionen in der Tweeden Kammer in Den Haag vertreten, woran sich wenig ändern wird. Es wird also ein Bündnis aus drei oder vier Parteien nötig sein.

Zudem spielt Königin Beatrix eine wichtige Rolle: Sie bestimmt nach dem Wahltag einen informateur, der ausloten soll, welche Koalitionen möglich sind. Dieser informateur ist meist ein erfahrener Politiker aus dem Umfeld der vermutlich in Frage kommenden Parteien, der selbst nicht mehr aktiv mitmischt. Geert Mak betont: "Mit der Ernennung kann die Königin den Prozess der Regierungsbildung durchaus in eine bestimmte Richtung lenken."

Insofern ist es gut möglich, dass am Tag des WM-Finales am 11. Juli noch immer verhandelt wird. Solange Oranje noch im Turnier dabei ist, werden die Niederländer mit Mark van Bommel, Arjen Robben und Co. mitfiebern. Sollte die Elftal gewinnen, so müsste die künftige Regierung nicht mehr ganz so stark sparen. Unter dem Titel "Kassa rinkelt als Oranje wint" berichteten die Zeitungen über eine Studie der ING-Bank. Die niederländische Wirtschaft, so die Studie, bekäme einen Impuls von zusätzlich 700 Millionen Euro , wenn der Pokal in das Land der Deiche käme.

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