Wahl in den Niederlanden:"Die Populisten sagen nur zu allem Nein"

Wahlen in den Niederlanden

Wahl in den Niederlanden: Eine Frau schiebt vor dem Wahllokal in einer Mühle in Oisterwijk ihr Fahrrad, nachdem sie hier ihre Stimme abgegeben hat.

(Foto: dpa)

EU-Skepsis, Angst vor Flüchtlingen, soziale Probleme machen Geert Wilders stark - und sind die Themen des niederländischen Wahlkampfs. Doch im Schatten der großen Debatten arbeiten immer mehr Niederländer an neuen Formen der Demokratie.

Von Pieter Couwenbergh

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würden die Niederländer nur ungern politische Experimente wagen: Zu den Top 4 in den jüngsten Umfragen zu den Wahlen am heutigen Mittwoch gehören mit den Rechtsliberalen, den Christdemokraten und der linksliberalen D66 drei traditionelle, alte Parteien. Relativ neu ist nur die PVV des Rechtspopulisten Geert Wilders, die den zweiten Platz belegt.

Doch der erste Schein trügt. Auch wenn die Wähler den Umfragen zufolge offenbar mehrheitlich auf vertraute Volksvertreter setzen - in der niederländischen Gesellschaft tut sich was.

Das belegt zum einen schon die Vielzahl von Klein- und Kleinstparteien, die zur Wahl antreten. Viele widmen sich ganz bestimmten Themen und sie haben aufgrund der niedrigen Sperrklausel gute Aussichten, Vertreter ins Parlament zu schicken. Sage und schreibe 28 Parteien treten landesweit zur Wahl an - von den orthodox-calvinistischen Parteien SGP und CU über die Partei für die Menschen über 50 (50Plus) bis zur Partei für die Tiere. Selbst für die Niederländer, die an eine bunte Parteienlandschaft gewöhnt sind, ist das eine ungewohnt große Auswahl.

Der Wunsch nach Neuerung zeigt sich aber nicht nur bei den Parteien. Im ganzen Land entstehen seit einigen Jahren immer neue Bürgerinitiativen, die alle möglichen Ziele verfolgen. Manche wollen die parlamentarische Demokratie modernisieren. In einigen Gemeinden gibt es neuerdings Bürgerparlamente. Manche Bürger wünschen sich einfach nur eine umweltfreundliche Stromversorgung: Insbesondere in größeren Städten und Gemeinden experimentieren die Bürger mit Energiekooperationen, die gemeinsam etwa Sonnenkollektoren kaufen und Vereinbarungen mit Energieunternehmen treffen. Im Trend liegen auch "Sorgkooperationen" - eine Art Nachbarschaftshilfe, die sich ehrenamtlich um ältere Menschen, chronisch Kranke und Menschen mit Behinderungen kümmern.

In den Niederlanden gab es früher, ähnlich wie in Deutschland, viele Vereine, in denen sich die Menschen ehrenamtlich engagierten. In den 1980er Jahren aber übernahm der Staat viele Aufgaben. Das Vereinswesen kam in den meisten Orten zum Erliegen - doch nun erlebt es eine Wiedergeburt. Auch weil Regierung und Kommunen sparen, und sich aus vielen Aufgaben wieder zurückziehen.

Politik ist nicht mehr nur eine Angelegenheit für Den Haag

Das wachsende Engagement hängt einerseits damit zusammen, dass viele sich Sorgen über die Zukunft machen - angesichts von Umweltkrisen, zunehmender Flüchtlingszahlen, einer technologischen Revolution, die das Leben radikal verändert. Es gab in den vergangenen Jahren auch Kürzungen im Sozialsystem.

Viele Menschen haben das Gefühl, dass es jetzt darum geht, selbst etwas zu tun. Politik wird inzwischen nicht mehr so sehr als eine Angelegenheit für die Volksvertreter in Den Haag wahrgenommen, sondern immer mehr als etwas, zu dem jeder etwas beitragen kann und muss.

Dazu kommt bei vielen Niederländern das Gefühl, dass Veränderungen im politischen Denken nicht nur nötig, sondern auch möglich sind. Sie schließen dies etwa aus der überraschenden Entscheidung der Briten für den Brexit und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten - selbst wenn dessen erste Maßnahmen viele Menschen erschreckt haben.

Kurz zusammengefasst: Die Niederländer wollen von der Politik gehört werden.

Nationale Identität, Referenden, Losverfahren

Viele suchen da offenbar Verständnis bei jemandem, der ihre Sprache spricht und ihre Sorgen zu verstehen scheint. Der ihnen Halt verspricht mittels einer starken nationalen Identität und eine sichere Heimat in der unsicheren globalisierten Welt. Der der Gleichbehandlung und der freien Meinungsäußerung Grenzen setzen will, die manche verunsichert. Jemand wie Geert Wilders.

Der Wunsch, gehört zu werden, muss aber nicht zwangsläufig zu Parteien wie der von Wilders führen. Er kann auch etwas ganz anderes bewirken: So wird im Schatten des Wahlkampfes auch über eine Reform der parlamentarischen Demokratie diskutiert. Das Volk möchte mehr Demokratie - und weniger Politik. Einmal in vier Jahren abstimmen, so meinen viele, reicht nicht mehr in diesen digitalen Zeiten. Die EU-Skeptiker Thierry Baudet (Forum für Demokratie), Jan Roos (Für die Niederlande) und Jan Dijkgraaf (Kein Niveau) fordern verbindliche Referenden wie in der Schweiz.

Es gibt noch ausgefallenere Ideen wie die des belgischen Schriftstellers David von Reybroeck, der vorschlägt, Bürger über eine Auslosung in demokratische Institutionen - auch das Parlament - zu bringen. Andere fordern, es sollte nicht der Chef der größten Partei Ministerpräsident werden, sondern die Bürger sollten ihn direkt wählen.

Die Debatte um eine Reform der niederländischen Demokratie wird allerdings längst nicht mehr nur von Intelektuellen geführt. Sie ist in vielen Orten schon in der Praxis angekommen, zum Beispiel in Heerhugowaard, Geburtsort der Bewegung "Code Orange".

"Die Leute möchten mitbestimmen"

"Die Bürger fragen mich heute, wie ich eigentlich Entscheidungen für unsere Gemeinde fälle", sagt Bert Blase. Er ist gegenwärtig Bürgermeister von Heerhugowaard, einer Stadt in Nord-Holland mit 54 176 Einwohnern. Und er ist der Gründer einer Bewegung, die Bürgern auf lokaler Ebene viel mehr politische Kontrolle geben möchte. "Ich sehe eine Welle des Engagements der Bürger in der Gesellschaft. Die sollten wir nutzen."

Auch Blase kann sich Referenden vorstellen - über Lösungen von Problemen könnte aber nicht nur einfach mit "Ja" oder "Nein" entschieden werden. Die Angebote sollten differenzierter sein: "Ja, vorausgesetzt dass ..."

In Heerhugowaard experimentiert Blase mit der sogenannten "H300", einer Versammlung von 300 Bürgern, Gemeinderäten und Unternehmern, mit denen er über Themen wie Soziales, Nachhaltigkeit, Wohnen, Verkehrssicherheit und überhaupt die Zukunft ihrer Stadt diskutiert. "Die Leute sind engagiert und möchten gern mitbestimmen", sagt Blase.

In die Region Twente an der Grenze zu Deutschland gibt es sogar ein "Twentement", ein Parlament von Bürgern und Experten aus der Region, die sich einmal im Jahr treffen und über die Sozialagenda diskutieren.

Blase und seine Mitstreiter (darunter viele weitere Bürgermeister) möchten aber nicht nur mit den Bürgern diskutieren, sondern Politik und Gesellschaft wieder zusammen bringen. So schlagen sie vor, dass die Menschen in Städten und Gemeinden selbst Vereinbarungen (Akkorde) zu wichtigen Themen vorlegen, die in Zukunft gelöst werden sollen.

Die Regierung in Den Haag dagegen sollte nach der Wahl mit Experten und Instituten zusammenarbeiten, etwa dem Niederländischen Institut für Sozialforschung (SCP), dem Sozialwirtschaftlichen Rat (SER) und dem Wissenschaftlichen Rat für die Regierungspolitik der Niederlande (WRR).

Sturmwarnung und kooperative Demokratie

Bert Blase hat seine Bewegung "Code Orange" genannt. In den Niederlanden wird dieser Begriff eigentlich als Unwetterwarnung verwendet. Steht es wirklich so schlimm um das politische Klima in den Niederlanden? "Die Populisten", sagt Blase, "betonen oft den Konflikt. Die sagen nur zu allem Nein und haben keine Ahnung, was es für Alternativen gibt. Nehmen Sie nur Großbritannien und den Brexit." Notwendig sei es dagegen, etwas gegen die Ungleichheit in der Gesellschaft zu tun. Code Orange soll aber nicht einfach warnen, dass ein Sturm bevorsteht. "Code bedeutet kooperative Demokratie", sagt Blase. Im Niederländischen also "coöperatieve democratie".

Und was erhofft sich der Bürgermeister von der Wahl am Mittwoch? "Hoffentlich werden die Politiker nach dem Wahl eine breite Koalition bilden", sagt Blase. "Ein solches Bündnis hat dann die notwendige Unterstützung für wirkliche Reformen." Den Umfragen zufolge sieht es allerdings so aus, als bliebe die derzeit mit den Sozialdemokraten regierende VVD die stärkste Partei. Wird sich nach der Wahl dann vielleicht doch nichts ändern?

Es war der VVD-Chef und amtierende Ministerpräsident Mark Rutte selbst, der bereits im Jahr 2013 sagte, das System der politischen Parteien sei bankrott und es würde etwas Neues benötigt. Wie das Neue aussieht - das entscheiden am Mittwoch die Wähler. Und an allen anderen Tagen die Bürger, die sich an ihren Heimatorten engagieren.

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