Süddeutsche Zeitung

Wahl in Berlin:Wer die AfD wählt, wählt nicht das Vierte Reich

Die Demokratie hält eine rechtspopulistische Rauspartei aus. Trotzdem sollte die Wahl in Berlin ein Weckruf für SPD und CDU sein.

Kommentar von Heribert Prantl

Die schönste Liebeserklärung an diese Stadt ist gerade fünfzig Jahre alt geworden. Sie stammt aus dem Jahr 1966 - dem Jahr, in dem sich Willy Brandt als Regierender Bürgermeister verabschiedete und Außenminister wurde; die Mauer war fünf Jahre alt; die Studenten, geführt von Rudi Dutschke, pflasterten die Stadt mit Plakaten voll; das Passierscheinabkommen trat in Kraft, die Westberliner konnten ihre Verwandten in Ostberlin besuchen.

In diesem Jahr 1966 sang Hildegard Knef ihr Lied an Berlin - "dein Gesicht hat Sommersprossen". Das war liebevoll gemeint; an eine Partei wie die AfD hat die Knef dabei nicht gedacht; es gab keine Partei dieser Art damals. Westberlin war rot, und als die SPD 1967, bei der ersten Wahl nach Brandt, um fünf Prozentpunkte "abstürzte", hatte sie noch immer 57 Prozent. Alte Zeiten, Lichtjahre her.

Die SPD in Berlin wäre stolz wie Bolle, wenn sie heute halb so stark wäre wie damals; ähnlich ist es bei der CDU. Die großen Parteien sind, nicht nur in Berlin, viel kleiner geworden; sie sind auch deswegen kleiner, weil neue Parteien gewachsen sind, die nicht einfach als politische Pigmentstörungen betrachtet werden können.

Demokratie muss man lernen, immer wieder

Deutschland ist aber nicht weniger demokratisch, wenn man zur Regierungsbildung drei Parteien braucht statt zwei. Es hat sich unendlich viel geändert seit dem Sommersprossenlied; dass die Gesellschaft weniger demokratisch wäre als damals, kann man nicht behaupten. Aber die Demokratie muss sich in globalisierten Zeiten neu bewähren. Es gilt, einen ihrer Kernsätze wieder zu verinnerlichen: Demokratie muss man lernen, immer wieder. Der Umgang mit der AfD und ihren Wählern gehört zu diesem Lernprozess. Und: Die Bürger müssen die Demokratie im politischen Alltag spüren können; dass das nicht so ist, zeigen die breiten Proteste gegen TTIP und Ceta, an denen sich Bürger aller Couleur beteiligen.

Der Erfolg der AfD ist ein Weckruf, der besagt: Es ist nicht selbstverständlich, dass die Gesellschaft liberal ist und bleibt. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass Minderheiten (und dabei geht es nicht nur um Flüchtlinge) geachtet werden und bleiben. Und es ist auch nicht selbstverständlich, dass die Demokratie bei allen beliebt ist und bleibt. Von einer Minderheit wird sie als "System" verhöhnt. Ganz falsch ist das Wort nicht: Demokratie ist das beste Betriebssystem für Staat und Gesellschaft. Mit ihr verhält es sich freilich wie mit der Aufklärung: Die fällt nicht irgendwann vom Himmel und bleibt dann ewig da. Sie muss immer wieder gelernt werden. Wir leben in Lernzeiten.

Womöglich ist die AfD nur eine Drei-Jahres-Fliege

Parteienvielfalt ist Kennzeichen der jüngeren Bundesrepublik geworden; die AfD ist die neueste der neueren Parteien. Sie wird als politische Potenz gehandelt, auch wenn sie womöglich nur eine Drei-Jahres-Fliege ist. Weil sie nun, nach der Berlin-Wahl, im zehnten Landesparlament sitzen wird, herrscht bei den anderen Parteien große Nervosität; und weil ein Teil des Führungspersonals der AfD sehr nationalistisch daherredet, wird bisweilen so getan, als stünde mit der AfD das Vierte Reich zur Wahl. Man soll es, bei aller Ablehnung, nicht übertreiben.

Die AfD ist eine Retropartei, sie ist eine Rauspartei: Raus aus der EU, dem Euro, der Nato, raus aus der Toleranz, zu der dieses Land gefunden hat. Sie ist eine Partei, die sich ein Heinzelmännchen-Deutschland wünscht: Ach wie war es ehedem, im alten Deutschland so bequem - angeblich. Wenn nicht ständig "Ogottogott!" gerufen würde, wenn nicht jede Blähung als Donnerschlag Beachtung fände - dann wäre die AfD, bei allem verbreiteten Unbehagen über die Flüchtlingspolitik, nur halb so interessant. Angela Merkel hat nun dieses Unbehagen aufgegriffen; sie hat davor gewarnt, ihr berühmtes und umstrittenes Wort "Wir schaffen das" zu verklären. Es war als Ermutigungswort gedacht; ein Generalschlüssel zur Problemlösung war und ist es nicht.

Die SPD wird wieder röter und die CDU schwärzer

Parteien müssen sich nicht dafür genieren, wenn sie etabliert genannt werden; etabliert heißt bewährt; und bewährt ist besser als beschränkt. Gut wäre es, wenn die Etablierten zeigen könnten, dass etabliert nicht kraftlos bedeutet, nicht selbstgenügsam, nicht arrogant. Die alte FDP hat das zu zeigen versucht; sie ist nun in Berlin wieder im Spiel. Die Wahlergebnisse sind aber Unruhekissen für CDU und SPD; die Kissen werden dünner, man sitzt nicht mehr bequem.

Bei der Union ist die Kanzlerin nicht mehr die Kaiserin Maria Theresia. Sigmar Gabriel war ohnehin nie SPD-Kaiser. Merkel und Gabriel verbindet, dass sie in ihren Parteien umstritten sind. Das muss kein Unglück, das kann der Beginn einer inhaltlichen Pointierung sein, die die Parteien wieder unterscheidbarer macht. Es wird so sein, dass die SPD wieder röter und die CDU schwärzer wird. Der Demokratie muss das nicht schaden.

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Quelle:
SZ vom 19.09.2016/sih
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