Wahl in Berlin:Der mühsame Sieg des Herrn Müller aus Tempelhof

Solides Handwerk statt Wowereit-Glamour versprach Michael Müller, als er vor zwei Jahren sein Amt antrat. Doch für einen Problemlöser wäre es gut, wenn er Probleme lösen würde.

Von Jens Schneider

Es gibt einen Moment an diesem Wahlabend, da fühlt sich der Sieg von Michael Müller noch nicht so schwer an. In den ersten Prognosen verliert seine Berliner SPD zwar, aber der Vorsprung vor den anderen Parteien erscheint kommod, er kann ein wenig erleichtert sein. Früh geht der 51-Jährige auf die Bühne der Columbiahalle am alten Flughafen Tempelhof. Es ist nun seine Aufgabe, sich zum Wahlsieger zu erklären. Er sagt die Sätze, die nun sein sollen. Dass die SPD klar vorn liege, die Wahl gewonnen und einen Regierungsauftrag habe. Er winkt den Genossen zu, die auch tun, was nun sein soll und ein wenig applaudieren.

Ob Müller sich selbst in diesem Moment als Sieger fühlt? Er hat von sich selbst einmal gesagt, dass man ihm immer ansehe, was in ihm vorgeht. So sei das nun mal, vor allem scheint es so zu sein, wenn es in ihm rumort. Er ist kein Schauspieler-Typ. So ist sein Lächeln an diesem Abend kein Lächeln, seine Lippen hält er zusammengepresst. Er strengt sich an, wie so oft. Bevor Müller die Bühne verlässt, fordert er die Parteifreunde zum Feiern auf. Wenn er wiederkomme, solle die Luft brennen.

Danach wird es ruhig, und in den folgenden Stunden entwickeln sich die Hochrechnungen für die Wahlsieger von der SPD von Stunde zu Stunde schlimmer, bis sie am Ende nur noch bei 21, 6 Prozent liegen. Müller bleibt am späten Abend nur noch der Satz: "Das ist nicht schön." Und das, worum es in den vergangenen Wochen nur noch ging - der Regierungsauftrag. Er hat es geschafft, als Nachfolger von Klaus Wowereit die SPD für weitere Jahre in Berlin an der Macht zu halten, seit 27 Jahren regiert sie in Berlin nun schon mit, länger als ein Jahrzehnt stellt sie den Regierungschef.

Auf den Wahlplakaten stand nur "Müller, Berlin"

Der Wahlabend passt zur politischen Karriere eines Mannes, der sich immer alles erarbeiten musste, dem nichts mit Leichtigkeit zufällt. Fleiß nennt er selbst eine seiner wichtigsten Eigenschaften. Im Wahlkampf hat Müller sich aufgerieben wie wenige Kandidaten. Er hat alles versucht. Er zog schon im Frühjahr mit einer "Füreinander"-Tour durch Berlin, als sein Konkurrent Frank Henkel von der CDU nicht mal in den Startlöchern war. Später lud Müller zu Gesprächen auf Dächern: "Über Berlin reden", ob in der eleganten PanAm-Lounge in Charlottenburg oder über einem Senioren-Heim.

Fast jeden Tag konnten Berliner in jedem Bezirk "Müller treffen". Seine Plakate gaben vor, dass alle ihn längst kennen müssten, wie einen guten Bekannten: "Müller, Berlin" stand da nur. Aber so oft der 51-Jährige sich auch aufmachte, bald sichtbar erschöpft, so sehr er sich anstrengte: Er kam nicht an, wo er hinwollte. Er hatte einen Vorsprung, ein richtiger Amtsbonus sieht anders aus. So reichte es jetzt nur für diesen schweren Sieg.

Dabei sah es für Müller noch vor gut zwei Jahren anders aus. Ihm war ein unerwartetes Comeback gelungen. Als Klaus Wowereit im Spätsommer 2014 seinen Rücktritt ankündigte, zögerte und zauderte Müller zunächst, sich um die Nachfolge zu bewerben. Er konnte nicht wissen, ob die Partei hinter ihm stand. Zwei Jahre zuvor hatte sie ihn als Vorsitzenden abgewählt, es war eine Demütigung, auch damals konnte man ihm ansehen, dass er es genau so empfand. Mit seinen Ambitionen auf die Wowereit-Nachfolge schien es vorbei zu sein. Als mögliche Kandidaten galten die zwei Sozialdemokraten, die seine Ablösung als Parteichef betrieben hatten: der neue Vorsitzende Jan Stöß und Fraktionschef Raed Saleh. Aber Müller trat an in diesem Herbst 2014 und gewann die Mitgliederbefragung klar.

Ein Kärrner-Typ, der nichts leichtnehmen kann und dem nichts leichtfällt

Er machte damals eine Tugend daraus, eben kein zweiter Klaus Wowereit zu sein. Er warb für sich damit, kein Schauspieler zu sein, keinen Glamour-Faktor zu haben. Und es sah nach der Amtsübernahme für einige Monate aus, als ob damit genau der gekommen wäre, auf den Berlin gewartet hatte - ein Kärrner-Typ, der nichts leichtnehmen kann und dem nichts leichtfällt.

Leichtigkeit hatten die Berliner ein Jahrzehnt lang erlebt und einen ewig unfertigen Flughafen und eine marode Verwaltung geerntet. Wowereit war forsch und wirkte, als hätte er die Welt gesehen. Müller war, wie viele sind. Er ist verwurzelt in seinem Kiez in Tempelhof, den er nie verließ. Der Vater zweier erwachsener Kinder lebt dort mit seiner Familie bis heute. In Tempelhof beendete er die Schule mit der Mittleren Reife, hat eine Ausbildung zum Bürokaufmann gemacht. Danach lernte er an der Seite seines Vaters, als selbständiger Drucker auch mit kleinen Aufträgen durchzukommen. Beide führten sie die Firma gemeinsam, bis Müller 2011 Stadtentwicklungssenator wurde. Schon 1996 war der Sozialdemokrat ins Abgeordnetenhaus eingezogen. Zwanzig Jahre ist er jetzt dabei.

Von seiner ersten Regierungserklärung blieb ein Wort hängen: Schultoiletten

Der zurückgenommene Auftritt sollte seine Basis sein. Als er schon Regierungschef war, gefiel es ihm, sich in Bürgergesprächen als "Herr Müller aus Tempelhof" vorzustellen. Der Herr Müller versprach, die kleinen Aufgaben anzugehen. Von seiner ersten Regierungserklärung blieb ein Wort hängen: Schultoiletten. Kein Entwurf, keine Vision, Schultoiletten, die sollten endlich in Ordnung gebracht werden.

Die Zeichen standen gut. Jahrelang war im hoch verschuldeten Berlin massiv gespart worden. Nun stand wieder Geld zur Verfügung, ein Investitionsprogramm wurde beschlossen, der Regierende wollte der Problemlöser sein. Zunächst hatte er großartige Umfragewerte. Doch für einen Problemlöser wäre es gut, wenn er Probleme löst. Irgendwann reicht es nicht mehr, dass er sie einräumt oder anderen die Schuld gibt.

Zwei Jahre nach der Amtsübernahme ist die Bilanz anständig. Berlins Wirtschaft boomt, Investoren streben in die Stadt. Aber vielleicht hat die Regierung den Hebel zu spät umgelegt, zu spät vom Sparen aufs Investieren umgeschaltet. Müller sagt inzwischen, man hätte früher beginnen sollen. Jetzt hakt es an vielen Stellen. Die Investitionsmittel können oft nicht eingesetzt werden, weil auch dafür Personal fehlt. Der Berliner Verwaltungsnotstand erzeugt ständig peinliche Geschichten.

Mit dem Scheitern des Lageso kippte die Stimmung

Vor gut einem Jahr begann die Stimmung zu kippen. Auslöser war keine kleine Geschichte, sondern das Scheitern des Lageso an der Aufnahme von Tausenden Flüchtlingen. Es war ein Amt wie jedes andere in Berlin. Unter dem Spardruck war das Personal extrem ausgedünnt worden, schon bevor die Kanzlerin die Grenzen öffnete, herrschten unzumutbare Zustände.

Müller versuchte sich als Kümmerer. Er rief Chefs von Unternehmen, damit sie schnelle Hilfe leisteten. Für die Medien klang das nach einer Chefsache. Als sich zu wenig änderte, warf er Sozialsenator Mario Czaja von der CDU in einer Regierungserklärung Versagen vor und verkündete einen großen Plan, wieder eine Chefsache, wieder wurde wenig schnell besser.

Mit den Sorgen wuchs die Empfindlichkeit. Müller neigt zum Misstrauen, kann Kritik nicht abtropfen lassen. Das spiegelt sich im Umgang mit seiner Partei und auch mit Medien. Den Tagesspiegel, in Berlin eine wichtige Stimme, boykottiert er inzwischen weitgehend. Da sei was vorgefallen, wird im Roten Rathaus erklärt, ohne konkret zu werden. Die Zeitung genießt die Rolle der Unbequemen, die es sich mit der Regierung verscherzt hat. Nachdenkliche Genossen fragen sich, was ihm das nutzen soll.

Aber Müller fühle sich gern verfolgt, sagen sie, auch in der Partei. Das sei eben sein Muster. Müller vertraue nur einem kleinen Kreis, der von ihm bedingungslos eingespannt wird. In diesem engen Zirkel würde fast alles ausgemacht. Und so wie er sich auszehrt, fordere Müller auch Mitarbeiter. Er könne dabei hart sein, am Ende setze er sich eben mit Macht durch: Im Frühjahr löste er den internen Konkurrenten Jan Stöß als Vorsitzenden ab - jenen Genossen, der ihn vier Jahre zuvor als Parteichef gestürzt hatte. Stöß habe ihn nicht genug unterstützt.

Müller ließ sich zum Parteichef wählen. Die SPD-Zentrale wurde auf ihn ausgerichtet. Wer sich selbst ständig über die Belastungsgrenze hinaus aufreibt, den plagt bald das Gefühl, dass die anderen nicht genug mitziehen. Kurz vor Ende des Wahlkampfs beklagte Müller in einer Vorstandssitzung fehlendes Engagement im Wahlkampf. Einige Genossen reagierten empört: Das sei ja sehr motivierend. Eine große Liebesbeziehung zwischen der Partei und ihrem Regierenden scheint es nicht zu geben. Er ist halt der, der es jetzt macht.

Vor der Wahl kursierten schon Putsch-Gerüchte

In der Partei kursierten schon Gerüchte, dass Müller um sein Amt fürchten müsse. Fraktionschef Raed Saleh warte nur darauf, dass Müller ein schwaches Ergebnis einfahre, um selbst zu übernehmen. Quatsch, sagten andere, da werde vorsorglich eine Dolchstoß-Legende von Müllers Leuten verbreitet. Nun herrscht erst mal Ruhe, niemand redet von einem Putsch. Die rot-rot-grüne Regierung soll vorbereitet werden, Müller und Saleh brauchen einander. Die neue Regierung wird massiv in die Infrastruktur und die öffentliche Verwaltung in Berlin investieren. Wegen der hohen Verschuldung war in Berlin jahrelang an allem gespart worden, nun sind viele Schulen, Straßen, Ämter Sanierungsfälle - und das in einer boomenden Stadt, deren Einwohnerzahl jährlich um rund 40 000 Menschen wächst.

Für Müller ist das jetzt mehr als eine Bewährungschance. Es könnte seine Chance sein, beim nächsten Mal etwas vorzuweisen, wenn die vielen Investitionen des Landes Früchte tragen sollten, auch der Flughafen BER einmal eröffnet sein wird. Dafür käme es freilich darauf an, dass er wirklich den Schalter umlegen kann mit einer neuen Regierung. Am Wahlsonntag sagte er noch zu diesem Ergebnis: "Ich habe den Ansporn, es in Zukunft besser zu machen." Auch das gehört zu Müller: Er fühlt sich oft mal ungerecht beurteilt, aber sieht Mängel selbst recht genau, und gesteht sie auch gelegentlich offen ein.

Und wie an diesem Wahlsonntag scheint er oft nach seinem Weg zu suchen, wie er diesen Willen zur Ehrlichkeit und seinen Wunsch, sich selbst zu behaupten, verbinden kann. Das wird wichtig sein, wenn Müller jetzt mit Grünen und Linken eine Koalition schmieden will, die Vertrauen braucht, das es im noch amtierenden rot-schwarzen Senat schon lange nicht mehr gab.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: