Polens Premier Donald Tusk hat das Ergebnis der Wahl in Frankreich am Sonntag in einer Kurznachricht gebündelt. „In Paris Enthusiasmus, in Moskau Enttäuschung, in Kiew Erleichterung. Das reicht, um in Warschau glücklich zu sein“, schrieb er auf dem Kanal X. Tusk traf damit wohl die Stimmung der Regierenden in den meisten europäischen Hauptstädten und auch in der EU-Zentrale in Brüssel.
Der EU ist durch die Niederlage des rechtsextremen Rassemblement National (RN) zumindest eine weitere ultrarechte Regierung in einem Gründungsland der EU erspart geblieben, nach jener in Italien. In Berlin sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit, man habe „mit einer gewissen Erleichterung wahrgenommen, was alles nicht passiert ist“.
Eine Führungsrolle wird von Frankreich erst einmal nicht zu erwarten sein
Den Eindruck, dass die Bundesregierung restlos glücklich sei, vermittelte er trotzdem nicht. Denn das „Glück“, das Donald Tusk zitiert, ist wohl eher flüchtiger Natur. Brüsseler Diplomaten fürchten wie ihre Kollegen in Berlin erst einmal eine Phase politischer Lähmung, bis sich in Frankreich die Lage geklärt hat. Es liege jetzt in Paris, wie sich „in dieser doch auch historisch sehr ungewöhnlichen Konstellation jetzt eine Regierung herausmendelt“, formulierte Regierungssprecher Hebestreit.
In Regierungskreisen verweist man darauf, dass auf die konstituierende Sitzung der Nationalversammlung am Mittwoch nächster Woche noch eine weitere Sitzung folgt, bevor die Abgeordneten in eine lange Sommerpause gehen. Womöglich wird bis in den Herbst nicht klar sein, wie die neue Regierung in Paris aussieht. Das komplizierte Leben in der Berliner Ampelkoalition mutet geradezu einfach an im Vergleich zu dem, was Frankreich ob der unklaren Mehrheiten bevorsteht.
Bundeskanzler Olaf Scholz wird während des Nato-Gipfels in Washington in dieser Woche die Gelegenheit haben, sich aus erster Hand zu informieren: Er ist mit Präsident Emmanuel Macron zum bilateralen Gespräch verabredet. In Regierungskreisen heißt es, das Gewohnheitsverfassungsrecht in Frankreich kenne eine sehr starke Stellung des Präsidenten im Bereich der Außenpolitik und der Verteidigung – da erwartet man eher Kontinuität. Dass es bald Gelegenheit gebe „zu einem vertieften Meinungsaustausch zusammenzukommen, ist für uns wichtig und eine gute Gelegenheit“, heißt es in Berlin.
Auch in Brüssel geht man davon aus, dass die Grundzüge der EU-Politik unangetastet bleiben samt der Unterstützung der Ukraine. Zugleich fürchtet man, dass Frankreich bis zur Präsidentenwahl 2027 mehr mit sich selbst beschäftigt sein könnte als damit, die EU zu führen und zu stabilisieren.
Die finanzielle Lage Frankreichs macht der EU ohnehin schon Sorgen
Solange Macron noch keine Bündnispartner im Parlament gefunden und keinen neuen Regierungschef ernannt hat, bleiben allerdings die konkreten Folgen der Wahlen Spekulation. Feststehen dürfte aber schon: Die europäische Schuldenbremse und generell Haushaltsdisziplin, wie sie Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) auch in Brüssel gerne predigt, werden in Frankreich nur noch schwerlich durchzusetzen sein. Das dürfte auch das ohnehin angekratzte Verhältnis zwischen den beiden europäischen Führungsmächten zusätzlich belasten.
Macron wird nicht umhinkommen, sehr viel Geld aufzuwenden, um die Spaltung der Gesellschaft zwischen links und rechts, zwischen Stadt und Land zu überbrücken – schon gar nicht, wenn eine neue Regierung ins Amt kommt, in der linke Kräfte dominieren. Sie werden von Macron Zugeständnisse einfordern dafür, dass sie durch den Rückzug von Kandidaten dazu beigetragen haben, den Durchmarsch der Partei von Marine Le Pen zu vereiteln. Nur wird Berlin kaum mit dem Geld deutscher Steuerzahler bürgen für die Wünsche einer Regierung unter dem Einfluss des linken „Deutschland-Hassers“ Jean-Luc Mélenchon.
Die von Ursula von der Leyen geführte Europäische Kommission hat erst vor drei Wochen Verfahren gegen Mitgliedstaaten wegen hoher Schuldenstände und Haushaltsdefizite eingeleitet, zum ersten Mal nach der Pandemie. Frankreich war eines von sieben Ländern, die es traf – und es ist das Land, das der EU am meisten Sorgen macht.
Der französische Staat ist mit mehr als 110 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet, für das laufende Jahr wird mit einem Haushaltsdefizit von mehr als fünf Prozent gerechnet. Um sich an die EU-Regeln zu halten, müsste die Regierung in Paris einen harten Sparkurs einschlagen. Das wäre schon unter einem Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire schwer durchzusetzen gewesen. Nun dürfte das unmöglich werden.
In der EU dürfte damit der Druck weiter steigen, große Aufgaben wie den Ausbau der europäischen Verteidigungsfähigkeit oder Investitionen in den Klimaschutz durch gemeinschaftliche Schulden zu finanzieren. Lindner lehnt das strikt ab und weiß den Bundeskanzler an seiner Seite: Gerade hat Scholz auf dem EU-Gipfel Eurobonds zur Finanzierung europäischer Rüstungsprojekte ebenso abgelehnt wie Zuschüsse zu nationalen Verteidigungshaushalten aus dem EU-Budget. Gemeinsame Schulden seien nach den europäischen Verträgen ausgeschlossen.
In Brüssel kann der RN in der Totalopposition bleiben
Im Europaparlament bleiben die Rechtsextremen allerdings Frankreichs stärkste Kraft. Die Abgeordneten des RN werden nun nicht gezwungen sein, die Politik eines Regierungschefs Jordan Bardella zu flankieren. Sie werden in der Totalopposition verharren in einer neuen Fraktion namens „Patrioten“ an der Seite der Gefolgsleute des Ungarn Viktor Orbán. Diese ist drittstärkste Kraft des Parlaments hinter der Europäischen Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten und vor den „Europäischen Demokraten und Reformern“, als deren Führungsfigur Italiens Regierungschefin Meloni gilt.
In diesem nach rechts geschwenkten, zersplitterten Parlament stellt sich Kommissionspräsidentin von der Leyen am Donnerstag nächster Woche zur Wiederwahl. Es ist der nächste große Test für die Stabilität der Europäischen Union.