Wahl in Brasilien:Blind für die Bedrohung durch Bolsonaro

Vor der Wahl in Brasilien

Sorge über Alltagsgewalt, Lügen in sozialen Netzwerken und ein allgemeines Schnauze-Voll-Gefühl treiben Bolsonaro die Wähler zu.

(Foto: dpa)
  • Vor den Wahlen am Sonntag finden die meisten der Brasilianer keinen Kandidaten gut. Aber abstimmen müssen sie.
  • Der rechtsradikale Jair Bolsonaro ist ein erklärter Demokratiefeind, Fernando Haddad vertritt die Regierungspartei PT, die viele Menschen desillusioniert hat.
  • Diese Enttäuschung scheint viele blind werden zu lassen ob der Bedrohung durch Bolsonaro.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Im Stadtteil Urca von Rio, wo das inflationär verwendete Bild "unterm Zuckerhut" ausnahmsweise zutrifft, radelt eine Frau mit Kind auf dem Rücksitz. Die Straße ist eng, das Auto dahinter kann nicht überholen. Der Fahrer hupt. Weil die Frau nicht sofort weicht, ruft er: "Straßen sind für Autos da!" Die Frau: "Fahrradfahrer haben auch Rechte." Die Antwort des Autofahrers haben mehrere Zeugen gehört: "Es geht nicht mehr lange, dann zerschießt man Schlampen wie dir einfach die Reifen."

Es ist eine Begebenheit von vielen aus der vergifteten Stimmung des brasilianischen Wahlkampfs 2018. Wer auch das Stechen am Sonntag gewinnt, der rechtsradikale Jair Bolsonaro oder Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei PT, der Schaden ist angerichtet. Freundeskreise haben sich zerteilt, Familien reden nicht mehr miteinander, auf den Straßen ist Hass zu spüren, den vor allem Bolsonaro mit verrohter Sprache schürte. Vieles, was der frühere Fallschirmjäger der Militärdiktatur ankündigt, liest sich wie ein Aufruf zur Gewalt. Und seit radikale Anhänger Bolsonaros aus Umfragen wissen, dass sie die schweigende Mehrheit wohl hinter sich haben, ist Brasilien nicht wiederzuerkennen. Als wären die Filterblasen der rechtslastigen Netzwelt geplatzt und die Sätze von dort in die Wirklichkeit gepurzelt. Dass man radelnden Müttern die Reifen zerschießen sollte, hätte vor wenigen Monaten wohl keiner öffentlich gesagt. Und wahrscheinlich hätte auch keiner am Kiosk gefordert, die Armee solle Rios größte Favelas "auslöschen".

Noch hat Bolsonaro, der staatliche Gewalt zu einer legitimen Form der Politik erklärt, nicht gewonnen. Sein komfortabler Vorsprung ist etwas geschmolzen, die Zuckungen der Umfragekurven zeigen: Der Wähler ist wankelmütig. Ohnehin finden die meisten Brasilianer keinen der Kandidaten gut. Abstimmen müssen sie aber, es herrscht Wahlpflicht. Gewinnen wird der, den eine Mehrheit für das geringere Übel hält. Es sollte jedem lupenreinen Demokraten einleuchten, was es gegen Jair Bolsonaro einzuwenden gibt. In 28 Jahren als Parlamentarier hat er im Grunde nichts getan, als demokratische Institutionen zu diskreditieren, Minderheiten zu bedrohen, Waffen zu verherrlichen.

Bei der PT von Fernando Haddad ist es komplizierter. Sie stellte mit Lula da Silva und Dilma Rousseff 13 Jahre das Staatsoberhaupt. Sie wurde 1980 unter anderem von dem Gewerkschaftsführer Lula gegründet und entwickelte sich zur größten Linkspartei Lateinamerikas. Sie wurde nicht aus Moskau, Peking oder Havanna geprägt, sondern vom brasilianischen Traum einer gerechteren Gesellschaft. Lulas Aufstieg vom Schuhputzer zum Präsidenten brach mit allen ungeschriebenen Gesetzen der Nation, die stets von der postkolonialen Oberschicht, Oligarchen oder Militärs regiert worden war. Die PT steht für Errungenschaften in der Armutsbekämpfung, Gleichberechtigung, bei Bürgerechten. Doch ist ihre Gesamtbilanz durchwachsen. Zu ihr zählt der Aufstieg von Brasiliens Volkswirtschaft zur Supermacht und der jähe Absturz in die tiefste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Und vor allem die riesigen Korruptionsskandale "Mensalão" und "Petrolão".

So hat die PT extrem viele Menschen desillusioniert, denn sie war mit dem Versprechen eines neuen Politikstils angetreten. Das Versprechen hat sie verraten und ist bis heute uneinsichtig. Es ist nachvollziehbar, dass die meisten Brasilianer 2018 nicht für die PT stimmen wollen. Aber in einer Stichwahl mit Wahlpflicht geht es nicht um Ja oder Nein, sondern entweder oder. Das ist schwer verständlich: Warum in einem Land, in dem sich die meisten zur Demokratie bekennen,eine Mehrheit im Zweifel lieber einen Demokratiefeind will als eine demokratische Krisenpartei. Antwortfragmente, die es vielleicht erklären: Die Sorge über die Alltagsgewalt. Der Irrglaube, das Problem mit noch mehr Gewalt zu lösen. Die Macht der Lügen in sozialen Netzwerken. Der Einfluss der evangelikalen Kirchen, die den Katholiken Bolsonaro wegen seines Kampfes für "traditionelle Familienwerte" unterstützen. Und: Ein allgemeines Schnauze-Voll-Gefühl.

Man hört nun überall, die PT habe das Land moralisch ruiniert, habe ihre Chance verspielt, müsse weg! In Brasilien herrscht Wechselstimmung - sie richtet sich gegen eine Partei, die seit gut zwei Jahren in Opposition ist.

PT-Präsidentin Dilma Rousseff war bis Ende 2018 gewählt worden, wurde aber 2016 per Impeachment gestürzt. Seitdem regiert der fast unsichtbare Michel Temer mit einer Koalition. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf Rekordstand, und alle Parteien der Temer-Koalition sind wie auch die PT in Affären verstrickt. Und Bolsonaro, der sich als Saubermann inszeniert, hat laut Folha de S. Paulo und nach Ansicht der Organisation Amerikanischer Staaten von einer illegal finanzierten Lügenkampagne per Whatsapp profitiert. Korruption ist die Regel. Der Ärger darüber konzentriert sich aber fast nur auf die PT.

Rousseffs Absetzung war ein rechtsstaatlich verkleideter parlamentarischer Putsch. Vielleicht die Ursünde der Zerstörung von Brasiliens Demokratie. Das Volk bekam nie Gelegenheit, die PT für ihr zuletzt schlechtes Regieren zu strafen. Vielleicht haben deshalb viele das Gefühl, das nachholen zu müssen. Es ist offenbar so stark, dass es für die Bedrohung durch Bolsonaro blind macht.

Zur SZ-Startseite

Homosexuelle in Brasilien
:Als hätte Bolsonaro schon gewonnen

Der womöglich nächste Präsident Brasiliens schürt Hass auf alle, die anders sind als er. Unter Homosexuellen geht die Angst um - viele beginnen schon, sich zu verstecken.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: