Der kurze Waffenstillstand aus der Nacht, den der ukrainische Präsident und die Opposition ausgehandelt hatten, hat nur ein paar Stunden gehalten. Am Donnerstagmorgen ist der Maidan im Zentrum von Kiew wieder eine Kampfzone, und nicht nur das: Am Rande der Innenstadt sind die ersten Panzer aufgefahren, Aktivisten schicken sich per Facebook die Fotos.
Die Demonstranten haben jenen Teil des Maidan zurückerobert, den die Berkut, die Sondereinsatzkräfte des Innenministeriums, bei der blutigen Schlacht einen Tag zuvor eingenommen hatten. In militärisch organisierten Formationen klettern bewaffnete Regierungsgegner in Mannschaftsstärke über die eigenen Barrikaden und treiben die Polizei zurück, den Berg hinauf, ins evakuierte Regierungsviertel. Am Morgen hatte der Parlamentssprecher verkündet, die Werchowna Rada sei geräumt worden.
Immer wieder werfen Polizisten Blendgranaten und offenbar auch Molotowcocktails in die Menge, die wirft zurück. Schüsse fallen, offenbar schießen die Einsatzkräfte scharf, denn blutüberströmte Menschen schleppen sich zu den Krankenstationen am Rande des Maindan. Die Euromaidan-Zentrale, in der sich die Regierungsgegner organisiert haben, gab bekannt, zwei weitere Menschen seien ums Leben. Von der Bühne rufen Redner unentwegt zu weiteren Medikamentenspenden auf, Krankenwagen umkreisen den Platz, um Verletzte aufzunehmen, kommen aber nicht durch. Über alledem liegen Rauchschwaden, die die Luft zum Atmen nehmen.
Auch am 20. Februar fliegen im Morgenlicht Molotowcocktails, Feuerwerkskörper explodieren, der Platz ist von Feuern umrahmt, die einen Sichtschutz bilden sollen, damit die Berkut, die Truppe des Innenministeriums, nur erahnen kann, wie viele Mann sich auf der anderen Seite, hinter den Barrikaden, aufhalten.
Und so ist der Waffenstillstand vorbei, auf den die politischen Kräfte gehofft hatten. Die Parteichefs der drei größten Oppositionsparteien, darunter Vitali Klitschko und Arsenij Jazenjuk, hatten ihn ausgehandelt, aber auf dem Maidan in Kiew und darüber hinaus im ganzen Land soll es nach Expertenmeinung bis zu 40 verschiedene politische Gruppen geben, die sich schon lange nicht mehr an Absprachen mit den Parteichefs halten, die ihre eigene Agenda verfolgen.
Die wenigsten sind, auch wenn das in der EU und auch in Russland gern vereinfachend dargestellt wird, "rechtsradikal". Die Fronten verwischen sich. Da kämpfen Nationalisten, Föderalisten, empörte Demokraten, aber auch Fußball-Fans, Gruppen von Hooligans auf der Seite der Regierungsgegner. Viele dieser vor allem jungen Menschen haben keine explizite politische Agenda, aber sie wollen sich nicht vorführen lassen von einem Regime, dessen Protagonisten Milliarden ins Ausland schaffen, während sie daheim staatsmännisch von der Rettung der Ukraine sprechen.
Am Donnerstag sind der deutsche, der polnische und der französische Außenminister nach Kiew gereist; doch außer eines Fototermins in der deutschen Botschaft war von der hochrangigen Vermittlungsgruppe, welche die EU losgeschickt hatte, wenig zu sehen. Am Nachmittag soll es in Brüssel eine Sondersitzung der EU-Außenminister geben, auf der das "weitere Vorgehen" beraten wird.
Wird es Sanktionen geben? Gegen wen? Und wann? Die USA haben die ersten konkreten Einreisebeschränkungen für ukrainische Politiker in Kraft gesetzt, die sie für mitverantwortlich halten an der Eskalation der vergangenen Wochen, und nicht zuletzt daran, dass am 17. und 18. Februar mindestens 26 Menschen sterben mussten.
Auf dem Maidan interessiert das alles kaum jemanden, und auch in Rowno, Lemberg, Ternopol, in Tscherkassy oder in Saporoschje sind die Aktivisten, die Dutzende von Regierungsgebäuden eingenommen haben, eher desinteressiert an der internationalen Politik. Sie wollen sich ihren Staat jetzt auf diese Weise erobern, wenn sie ihn anders nicht bekommen. Und sie gehen davon aus, dass diejenigen, die das Volk bestohlen haben, ihr Geld in Erwartung drohender Sanktionen ohnehin längst ins Ausland geschafft haben und dem Westen auf diese Weise zuvorgekommen sind.
Auch in Kiew erobern sich die Demonstranten Raum zurück, Waffenstillstand hin oder her. Die zentrale Post wurde eingenommen, am staatlichen Fernsehgebäude soll es Kämpfe gegeben haben. Zwar hatte Janukowitsch am Abend zuvor den Armeechef entlassen; er habe sich, so die Gerüchte, nicht überzeugen lassen, Gewalt gegen die Demonstranten anzuwenden.
Man will auf dem Maidan die - relative - Ruhe nach den blutigen Auseinandersetzungen der vergangenen Tage nutzen. So lange, bis entweder neue Gespräche neue Kompromisse hervorbringen. Oder bis der Nachfolger des Armeechefs, ein echter Hardliner von der Marine, dann doch das Militär einsetzt.