Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Verlängern späte Waffenlieferungen den Krieg?

Ein Thinktank in den USA erhebt schwere Vorwürfe: Die zögerliche Unterstützung des Westens würde der Ukraine Gegenoffensiven erschweren und dadurch den Krieg in die Länge ziehen.

Von Nicolas Freund

Als Gegenargument zu Waffenlieferungen an die Ukraine wird oft angeführt, diese würden den Krieg nur verlängern. Sicherheitsexperten des Institute for the Study of War (ISW) in Washington, D.C., behaupten nun in einer Analyse das genaue Gegenteil. Demnach hätten zu späte und zu zögerliche Waffenlieferungen aus dem Westen sogar dazu beigetragen, den Konflikt in die Länge zu ziehen.

So habe die ukrainische Armee unter anderem wegen zu weniger gepanzerter Fahrzeuge Möglichkeiten für Gegenoffensiven verpasst, während die russischen Streitkräfte ihre Stellungen im Donbass ausbauen und verstärken konnten.

Das sind schwere Vorwürfe. Und obwohl Deutschland nicht genannt wird, ist der Bericht womöglich auch eine Reaktion auf die deutsche Zurückhaltung bei der Lieferung westlicher Kampfpanzer an die Ukraine. Diese wurde nach monatelangen Verhandlungen erst vergangene Woche beschlossen.

Charkiw und Cherson wurden auch mittels der "Himars"-Raketensysteme befreit

Analyse und Kritik des ISW sind unbedingt ernst zu nehmen: Das Institut mit Sitz in der US-amerikanischen Hauptstadt ist eine unabhängige Forschungseinrichtung, die 2007 von der Historikerin Kimberly Kagan gegründet wurde und seitdem ausführliche Zusammenfassungen, Analysen und Berichte aus Kriegsgebieten liefert.

Finanziert wird das ISW unter anderem von der amerikanischen Rüstungsindustrie, was aber nicht automatisch eine Einflussnahme bedeutet: Forschung ist in den USA oft stark auf Spenden angewiesen und sowohl die Industrie als auch staatliche Institutionen wie das Verteidigungsministerium finanzieren eine ganze Reihe ziviler und militärischer Forschungseinrichtungen, ohne deren Agenda zu bestimmen.

Das ISW hat nun den Ruf, einen harten außenpolitischen Kurs zu vertreten, gilt aber als sehr verlässlich und wird von vielen internationalen Medien als Quelle genutzt.

Der Bericht des Instituts zu den verzögerten Waffenlieferungen identifiziert drei bisherige Phasen des Krieges in der Ukraine: eine russische Initiative vom Kriegsbeginn im Februar an bis Juli 2022, als die Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk im Donbass von russischen Truppen eingenommen wurden, gefolgt von der ukrainischen Gegenoffensive, die dann von November an in einen zermürbenden Stellungskrieg mündete.

Die ukrainischen Rückeroberungen bei Charkiw und Cherson im Herbst hingen laut dieser Analyse unmittelbar damit zusammen, dass der Forderung aus Kiew an den Westen, Waffensysteme zu liefern, schnell nachgekommen wurde. So fanden die ukrainischen Gegenangriffe etwa zwei Monate nach der Lieferung der Himars-Raketensysteme statt, mit denen die ukrainischen Streitkräfte die Versorgungswege der russischen Armee aus der Ferne angreifen konnten. Das führte schließlich an mehreren Orten zum Zusammenbruch der russischen Front.

Dem ISW zufolge war bereits im Mai klar, dass die Ukraine westliche Waffen brauchen würde

Dass aber die etwa zur selben Zeit wie die Raketenwerfer von der Ukraine geforderten Kampfpanzer bis heute nicht geliefert wurden, hätte nun laut ISW die ukrainischen Fähigkeiten zu fortgesetzten Großoffensiven eingeschränkt. Gleiches soll dem Institut zufolge für die zu geringe Zahl von Flugabwehrsystemen und die fehlenden Langstreckenraketen gelten. Timing ist schließlich ein wichtiger Faktor bei solchen Gegenangriffen, und sich bietende Möglichkeiten hätten nicht immer genutzt werden können.

Nach der Rückeroberung von Cherson hätte die ukrainische Armee beispielsweise nur unter großem Risiko weiter vorrücken können. Wohl auch wegen fehlender Zusagen, dass verlorene Ausrüstung aus dem Westen ersetzt werden würde, entschied man sich gegen weitere Angriffe. Russland habe seinerseits die so gewonnene Zeit genutzt, um Truppen zu mobilisieren und seine Stellungen in den besetzten Gebieten zu befestigen, was Gegenangriffe nun noch schwieriger machen würde.

Dabei habe sich die Entwicklung des Krieges laut ISW abgezeichnet: Bereits im Mai sei klar gewesen, dass die Ukraine westliche Waffen brauchen würde. Einerseits für Gegenoffensiven, aber auch, weil die Versorgung mit sowjetischer Ausrüstung auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten war. Der nötige Wechsel vom alten Militärgerät aus Sowjet-Zeiten zu westlicher Ausrüstung hätte laut ISW also spätestens im Juni stattfinden müssen. Die Ukraine habe nun aber womöglich die Chance auf eine Gegenoffensive im Winter verpasst, eine solche wird nun vielleicht erst im Sommer möglich sein.

Die russische Armee setzt unterdessen zu Wochenbeginn ihre Angriffe nicht nur an der Front im Osten der Ukraine fort, sondern greift auch die Zivilbevölkerung im ganzen Land weiter an. So sollen bei Angriffen mit Artillerie, Raketenwerfern und Mörsern bei Cherson, Charkiw, Saporischschja und in anderen Regionen vier oder fünf Menschen getötet worden sein, mehr als ein Dutzend wurde verletzt. Ein Ende der Kämpfe ist derzeit nicht absehbar.

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