Süddeutsche Zeitung

Zweiter Zusatzartikel der US-Verfassung:Das Recht auf Waffenbesitz ist eine neue Erfindung

Nach jedem Amoklauf, nach jedem Anschlag in den USA betonen Waffenbesitzer und Waffenlobby, dass laut US-Verfassung jede Bürgerin und jeder Bürger Schusswaffen tragen darf. So eindeutig ist das aber gar nicht.

Von Markus C. Schulte von Drach

Zehn Tote an einer Schule in Santa Fe, erschossen von einem 17-jährigen Mitschüler. Sofort sind die Erinnerungen an das Massaker an der High School in Parkland wieder da. Die jüngste Tat reiht sich ein in die lange Liste der Massentötungen in den USA.

Während sich vom US-Präsidenten abwärts alle Politiker bestürzt zeigen und versprechen, die Schüler und Lehrer zu schützen, scheinen die jüngsten Aktivisten trotz des Schocks nicht zu resignieren, sondern weiter kämpfen zu wollen.

Denn nach dem Massaker an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida ist etwas in Bewegung gekommen: Schülerinnen und Schüler selbst organisierten den "March for our Lives" in der US-Hauptstadt Washington, Hunderttausende vor allem junge Menschen nahmen an den Demonstrationen in Hunderten von Städten teil.

Nachdem sogar Donald Trump, der im Wahlkampf massiv von der Waffenlobby unterstützt worden war, eine gewisse Offenheit für strengere Gesetze erkennen ließ, führte die NRA ihr - neben ihrem Millionenbudget und den Millionen Mitglieder-Adressen - stärkstes Argument an. Sie verteidige nur das Grundrecht aller US-Bürger zu besitzen, das schließlich im "Second Amendment", dem zweiten Zusatz der Verfassung der Vereinigten Staaten seit 1791 festgelegt ist. Und im Umkehrschluss sind die Parkland-Schüler und die anderen Organisatoren der Demos schlicht "Verfassungsfeinde".

Es wäre nachvollziehbar, wenn jene, die den Waffenbesitz in den USA einschränken möchten, angesichts dieser Entwicklungen und der Bilder aus Texas ihr Engagement frustriert einstellen würden. Zumal ihre Widersacher die Verfassung auf ihrer Seite haben. Aber haben sie das tatsächlich?

So eindeutig scheint die Sache erst seit einem Urteil des Supreme Court im Jahr 2008 zu sein. Und die Betonung liegt auf dem Wort "scheint".

Vor zehn Jahren gab das Oberste Gericht der USA zum ersten Mal eine Antwort auf die Frage, ob das Recht auf individuellen Waffenbesitz sich tatsächlich aus dem "Second Amendment" ergibt. Anlass war die Klage eines Einwohners von Washington D.C. gegen ein örtliches Gesetz von 1975, dem zufolge der Besitz von Waffen in der Hauptstadt - genauer: District of Columbia - verboten war. Dies, so der Kläger, würde gegen den Zweiten Verfassungszusatz verstoßen.

Das Urteil in diesem Fall "District of Columbia v. Heller" formulierte der inzwischen verstorbene konservative Richter Antonin Scalia, und er gab dem von der Waffenlobby sowie von Konservativen und Libertären unterstützten Kläger Recht. Allerdings zeigt schon das Verhältnis von Zustimmung und Ablehnung bei den Richtern des Supreme Court: Eindeutig geklärt ist die Sache nicht. Vier der neun höchsten Juristen der USA interpretierten den zweiten Verfassungszusatz anders als die anderen fünf - und stimmten mit Nein.

Uneindeutig dank der Kommata

Um zu verstehen, wieso die Entscheidung so schwierig ist, muss man einen Blick auf den Originaltext werfen: "A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed."

Der Versuch, diese Aussage mit ihrem seltsamen Satzbau und den ungewöhnlichen Kommata korrekt zu übersetzen, macht schnell deutlich, wo das Problem liegt. Die durch die Satzzeichen getrennten Satzteile lassen sich heute nur schwer in einen eindeutigen Zusammenhang stellen.

Darf der Waffenbesitz nicht eingeschränkt werden - darf also jeder US-Bürger jederzeit Waffen tragen -, damit gewährleistet ist, dass der Staat in einem militärischen Zusammenhang schnell eine Miliz aufstellen kann? Oder lässt sich aus dem zweiten Teil des Satzes sogar ableiten, dass Waffen auch völlig unabhängig von der Frage nach dem militärischen Zusammenhang getragen werden dürfen?

Oder soll nur grundsätzlich geklärt werden, dass jeder, der Mitglied einer aufgestellten Miliz ist, dann natürlich auch Waffen tragen darf?

Vor der Entscheidung des Supreme Court hatten Linguistik- und Anglistik-Fachleute erklärt, der Sprachgebrauch im 18. Jahrhundert weise eher darauf hin, dass sich Waffenbesitz nicht von der "wohlgeordneten Miliz" trennen ließe, wie der Princeton-Historiker Jan-Werner Müller kürzlich in der SZ analysiert hat. Scalia und vier weitere Richter hatten sich davon nur nicht beeindrucken lassen.

Es gibt etliche Belege dafür, dass die US-Verfassung so eindeutig nicht den Waffenbesitz aller Bürger erlaubt. So wies Warren E. Burger, bis 1986 selbst der Oberste Richter am Supreme Court, die Vorstellung, es gebe ein durch die Verfassung garantiertes Recht auf Waffenbesitz als "betrügerisch" zurück.

Wörtlich sagte er in einem Interview 1991, er halte es für "one of the greatest pieces of fraud - I repeat the word fraud - on the American public by special interest groups that I have ever seen in my lifetime". ("... einer der größten Fälle von Betrug, ich wiederhole das Wort Betrug, am amerikanischen Volk durch Lobbyisten, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe".)

Wie abseitig etwa in den Sechzigerjahren die Vorstellung eines uneingeschränkten Waffenbesitzes für alle war, zeigt das Beispiel des späteren US-Präsidenten Ronald Reagan. Der Republikaner sah sich als Gouverneur von Kalifornien gezwungen, strengere Regeln zu erlassen - weil sich auch Schwarze auf den Zweiten Verfassungszusatz beriefen.

Als Aktivisten der schwarzen "Black Panther"-Bürgerrechtsbewegung begannen, bewaffnet in den Straßen zu patrouillieren und als Afroamerikaner sogar ganz legal mit geladenen Gewehren in das Kapitol in Sacramento marschierten, wurde 1967 der "Mulford Act" verabschiedet. Damit war das Tragen von geladenen Waffen in der Öffentlichkeit in Kalifornien verboten.

Obwohl die Sache also so klar nicht ist, berufen sich konservative Politiker und die US-Waffenlobby immer wieder mit Erfolg auf den Zweiten Verfassungszusatzes, um Gesetze zu verzögern und zu verwässern, mit denen der Besitz oder das Tragen von Schusswaffen eingeschränkt werden sollte.

Um eine solche Hinhalte-Taktik in Zukunft grundsätzlich zu verhindern, hat ein ehemaliger Richter am Supreme Court kürzlich vorgeschlagen, den Zweiten Zusatzartikel zu streichen. John Paul Stevens war einer der vier Richter, die sich 2008 gegen das Urteil von Scalia gestellt hatten, und er hält die Abschaffung angesichts der Massenproteste für gekommen. Selten in seinem knapp hundertjährigen Leben habe er eine solches ziviles Engagement gesehen, wie es Schulkinder und ihre Unterstützer in Washington und anderen Städten im ganzen Land gezeigt hätten, so Stevens in der in der New York Times.

Die breite Unterstützung für die Parkland-Schüler sei ein klares Zeichen an die Gesetzgeber, endlich den privaten Besitz halbautomatischer Waffen zu verbieten und intensivere Überprüfung von Käufern vorzuschreiben. "Aber die Demonstranten sollten eine noch effektivere und anhaltendere Reform fordern", schrieb Stevens: "eine Aufhebung des Zweiten Verfassungszusatzes".

Notwendig wäre dazu allerdings, dass drei Viertel der US-Bundesstaaten einer entsprechenden Änderung der Verfassung zustimmen, die zuvor in beiden Kammern des Kongresses eine Dreiviertelmehrheit erhalten haben müsste.

Eine solche überparteiliche Zustimmung erscheint im ultrapolarisierten Amerika momentan völlig undenkbar. Entsprechend gering ist der Enthusiasmus unter Organisationen, die für "gun control" eintreten. Sie fordern weiterhin eine strengere Überprüfung von Käufern, die verhindern sollen, dass potenzielle Amokläufer oder Straftäter an Waffen kommen. Außerdem sollen besonders gefährliche Schusswaffen, etwa semiautomatische Gewehre und Pistolen, sowie große Magazine verboten werden.

Die Gerichte in den USA hätten mit überwältigender Mehrheit geurteilt, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen den Rechten des Zweiten Verfassungszusatzes und vernünftigen Gesetzen zur Waffenkontrolle, sagte etwa John Feinblatt von der Organisation "Everytown for Gun Safety" dem Guardian: "Die Bundesstaaten sind bereits dabei, die Menschen vor Waffengewalt zu schützen."

Ähnlich argumentiert auch die "Brady Campaign to Prevent Gun Violence", die nach Jim Brady benannt ist, der 1981 als Pressesprecher von Ronald Reagan bei dem Attentat auf den US-Präsidenten schwer verletzt wurde.

Die Aktivisten kämpfen weiter - hoffentlich

Immerhin zeigen Artikel wie der von Ex-Verfassungsrichter John Paul Stevens einmal mehr, dass die NRA und ihre Unterstützer, die trotz aller Toten weiterhin auf das verfassungsmäßige Recht auf Waffenbesitz pochen, auf so festem Boden nicht stehen. Dass sie sich dessen bewusst sind, darauf weist möglicherweise der Versuch mancher Aktivisten und konservativer Kommentatoren hin, die engagierten Parkland-Überlebenden als Schauspieler zu diffamieren.

Nun sind erneut zehn Schülerinnen und Schüler dort getötet worden, wo sie sich doch sicher fühlen und für ihre Zukunft lernen sollten. Der Täter war erneut ein Schüler, der die Waffen dafür nicht einmal selbst zu kaufen brauchte. Er brauchte sich nicht überprüfen zu lassen. Die Waffen gehörten seinem Vater. Dank des "Second Amendment", das angeblich nicht zu ändern ist.

Es muss fraglos frustrierend sein für die Aktivisten, dass angesichts des jüngsten Schulmassakers die jahrzehntelangen Bemühungen für strengere Waffengesetze einmal mehr vergeblich erscheinen. Hoffentlich geben sie nicht auf, egal ob sie sich seit drei Monaten oder seit Jahrzehnten engagieren.

Hoffentlich demonstrieren sie erneut gegen den Missbrauch der Verfassung, wenn schon nicht für die Abschaffung des Zweiten Zusatzartikels. Es ist kein bisschen weniger nötig als bisher, und vielleicht war die Zeit dafür nie besser als jetzt. Und, wie eine Umfrage von CNN nach dem Parkland-Massaker gezeigt hat: Sieben von zehn Amerikanern sind inzwischen für strengere Waffengesetze.

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