Süddeutsche Zeitung

Wählerwanderungen:Hunderttausende Wähler haben die eingetretenen Wege verlassen

  • Vor allem von der CDU sind viele Wähler zur AfD übergelaufen, auch SPD, Grüne, Linke und FDP haben Tausende Stimmen an die rechtspopulistische Partei verloren.
  • Die vielen Wechsler lassen sich damit erklären, dass seit dem Fall der Mauer die engen Bindungen zu Parteien sich immer weiter auflösen.
  • Wähler richten sich mehr nach einzelnen Themen, wie der Flüchtlingsfrage, oder nach Spitzenkandidaten.

Analyse von Jan Heidtmann

Wenn Wähler tatsächlich wandern würden, und wenn Parteien tatsächlich Berge wären, dann gäbe es seit dem vergangenen Sonntag jede Menge neue Trampelpfade in diesem Gebirge. Die eingetretenen Wege jedenfalls, auf denen die Wanderungen bisher stattfanden, haben die Wähler bei den Landtagswahlen zu Hunderttausenden verlassen. Das liegt natürlich vor allem an der AfD, die neu in der Parteienlandschaft dazugekommen ist.

Die Rechtspopulisten haben die Unzufriedenen aus allen Parteien eingesammelt, allen voran aus der CDU. In Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz zusammen haben die Christdemokraten nach Erhebungen von Infratest dimap 278 000 Wähler an die AfD verloren; nur von früheren Nichtwählern bekam die Partei mehr Stimmen. Der Zuwachs bei der AfD führt teilweise zu geradezu bizarren, zumindest schwer nachvollziehbaren Wählerbewegungen. So haben die fulminanten Wahlsieger von Baden-Württemberg, die Grünen, auch fulminant an die Anti-Flüchtlingspartei verloren: 70 000 ihrer Wähler wechselten zur AfD. Auch in Sachsen-Anhalt (3000) und Rheinland-Pfalz (5000) stimmten frühere Grün-Wähler für die Rechten.

Wählerwanderung Baden-Württemberg

Selbst die FDP, oft schon totgesagt, gibt jede Menge Stimmen an die AfD ab: 18 000 in Baden-Württemberg, 8000 in Rheinland-Pfalz, 6000 in Sachsen-Anhalt. Im Osten profitieren die Leute um Frauke Petry vor allem von der Linken, die 28 000 Stimmen weiterreichen muss, der höchste Transfer nach der CDU. Die Sozialdemokraten überlassen der Alternative für Deutschland in allen drei Ländern insgesamt 147 000 Stimmen, die meisten davon in Baden-Württemberg.

Die SPD ist in Baden-Württemberg auch die einzige der zukünftig im Landtag vertretenen Parteien, die nur verliert. Das ist nicht einmal bei der CDU so, der anderen großen Verliererin dort. Die Sozialdemokraten gewinnen, jedenfalls statistisch messbar, keine einzige Stimme von den anderen, verteilen aber großzügig: 157 000 an die Grünen, 90 000 an die AfD, 35 000 an die FDP, 13 000 an die CDU und 12 000 an die Linke.

Es ist der sprichwörtliche Aderlass, der hier zu beobachten ist, gleich im Blutrot der Sozialdemokratie. Denn auch in Sachsen-Anhalt gibt die SPD nur ab; hier vor allen anderen an CDU und AfD mit jeweils 20 000 Stimmen. Rheinland-Pfalz wirkt da wie eine Kur: Zwar verliert die SPD selbst hier, wo sie seit mehr als 20 Jahren regiert, am meisten an die AfD (37 000) und die CDU (14 000). Der Erfolg von Malu Dreyer wirkt da umso überraschender: Vor allem 90 000 ehemalige Grünen-Wähler haben ihn möglich gemacht.

Wählerwanderung Rheinland-Pfalz

Die neuen Routen der Wähler irritieren. Wegmarken, die einmal bestimmend waren, scheinen aufgehoben zu sein. Was machen 1000 Wähler der Christdemokraten aus Rheinland-Pfalz bei der Linken? Wie lässt sich erklären, dass Wähler der Grünen zu Zehntausenden zu einer Partei wechseln, deren Vertreter Rassismus und Hass propagieren? Die Ergebnisse dieser Wahlen treiben eine Entwicklung auf die Spitze, die mit dem Fall der Mauer vor gut 26 Jahren einsetzte. Damals begannen sich die engen Bindungen an Parteien aufzulösen, der Wechselwähler wurde zum neuen Protagonisten der Parteistrategien.

Denn je loser die Bindungen wurden, desto eher waren die Menschen auch bereit, sich mehr nach einzelnen Themen oder Spitzenkandidaten statt aus Loyalität zu einer Partei zu entscheiden. Oskar Niedermayer, Politologe beim Otto-Suhr-Institut in Berlin, hält deshalb selbst extreme Wanderungen von den Grünen zur AfD nicht für wirklich überraschend: "Das sind Randwähler der Grünen, die sind grundsätzlich wechselbereit." Voraussetzung dafür sei nur, dass sie in einem sehr grundlegenden Thema anderer Meinung als die gewählte Partei seien. "Die Flüchtlingspolitik ist genauso ein Thema", sagt Niedermayer.

Wählerwanderung Sachsen-Anhalt

Was umgekehrt dann auch wieder heißen kann: Setzt sich in der Flüchtlingspolitik der Eindruck durch, dass es die Politik tatsächlich "schafft", verliert die AfD schnell wieder ihren Zauber. Niedermayer: "Es kann gut sein, dass diese Wähler beim nächsten Mal wieder für die Grünen stimmen."

Bei diesen Wanderungen kreuz und quer, bei denen alles möglich erscheint, ist es dann sehr beruhigend, wenn einiges offenbar doch nicht möglich ist. Denn während jede Partei munter mit jeder anderen Wähler tauscht, gibt es in Rheinland-Pfalz keine nennenswerte Zahl von Wechselwählern zwischen der Linken und der FDP. Und in Sachsen-Anhalt wiederum scheinen sich Liberale und Grüne spinnefeind zu sein. Auch da wechselte jedenfalls keiner die jeweiligen Seiten.

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Quelle:
SZ vom 15.03.2016
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