Wähler und Gewählte:Der Auftrag

Wenn sich Politiker auf den "Wählerauftrag" berufen, erklären sie damit alles und nichts: Warum sie regieren wollen, nicht regieren wollen oder noch nicht regieren wollen. Der Wählerauftrag ist Fiktion - und rhetorische Floskel.

Von Detlef Esslinger

Es gibt ein Wort, das derzeit besonders oft zu hören ist; es kommt vor in einem Satz, der immer gleich klingt, egal welcher Politiker ihn spricht. "Wir müssen dem Wählerauftrag entsprechen", sagte die Vorsitzende der Grünen-Fraktion. "Wir werden unseren Wählerauftrag nicht verraten", sagte der Vertraute des FDP-Chefs. "Es ist völlig klar, dass der Wählerauftrag an uns die Opposition ist", sagte der Vorsitzende der SPD. Wählerauftrag, das ist die Vokabel, die alles erklären soll: warum eine Partei in die Regierung will, warum sie nicht mehr in die Regierung will, warum sie zumindest noch nicht in die Regierung will. Das Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten gilt als zerbrechlich. Also wollen Letztere um alles in der Welt vermeiden, Erstere noch weiter gegen sich aufzubringen.

Aber was soll ein "Wählerauftrag" eigentlich sein? Im Grunde ist er eine Fiktion, eine Pauschalierung, die so unpräzise ist wie "die Politiker", "die Medien" oder "die Lehrer". Einen definierbaren Auftrag mag es so lange gegeben haben, wie der Bundestag aus drei oder vier, maximal fünf Fraktionen bestand. Wer 1976 FDP wählte, der wollte die sozialliberale Koalition; wer es 1987 tat, stimmte für das Bündnis der Partei mit Kohl. Und wer 1998 für die Grünen votierte, der hoffte gewiss auf Rot-Grün. Aber unter denen, die 2017 grün wählten, oder CDU, dürften beide Gruppen gewesen sein: diejenigen, die auf einen schwarz-grünen Versuch hofften, und diejenigen, denen ein solcher zutiefst suspekt blieb.

Beim Wählerauftrag handelt es sich um ein Konstrukt, das so lange plausibel war, wie ein Lager Aussicht auf eine Mehrheit im Parlament hatte. Doch nun, da die AfD dem Bundestag angehört, ist dies zumindest dort nicht mehr der Fall. Solange diese Partei dort bleiben und zudem ein Lager für sich allein sein wird, dürfte es weder für Schwarz-Gelb noch für Rot-Grün reichen (und selbst nicht für Rot-Rot-Grün). Diese Konstellation war schon vor der Wahl absehbar. Sie verlangt nun nicht nur den Gewählten, sondern auch den Wählern einiges ab.

Unter ihnen sind, was Parteien und Politiker betrifft, drei Klischees besonders verbreitet. Das eine lautet, dass es zwischen CDU, CSU, SPD, Grünen und FDP sowieso keine Unterschiede mehr gebe. Die AfD hat dies in den Kampfbegriff "Altparteien" gekleidet und damit jene Stimmung gepflegt, die ihren Erfolg erklärt. Wie wenig dieses Klischee die Realität trifft, müssten die vergangenen drei Monate eigentlich zur Genüge bewiesen haben. Man muss schon wild entschlossen sein, sich von Tatsachen keinesfalls verwirren zu lassen, um nach all dem Jamaika- und Groko-Gequäle noch am Zerrbild eines Allparteienkartells festzuhalten.

Auf absehbare Zeit wird es für eine Koalition aus nur einem politischen Lager nicht mehr reichen

Das zweite Klischee besteht in der Gewissheit, dass Parteien in Wahlprogrammen immer alles versprächen und danach nur wenig hielten. Es ist nicht böswillig, wohl aber naiv. Denn es setzt die jeweils eigene Parteipräferenz absolut. Es ignoriert, dass andere Wähler andere Präferenzen haben und deshalb Parteien mit anderen Programmen bevorzugen. Aber nur in Bayern sind sich so viele Bürger einig in ihren Präferenzen (zumindest bisher), dass es für eine Partei zur absoluten Mehrheit reicht. Nur in einem solchen Fall darf man erwarten, dass ein Programm genau so umgesetzt wird, wie es beschlossen wurde. In allen anderen Fällen wird man konzedieren müssen, dass die eigenen Erwartungen für andere nichts als Zumutungen sind, und umgekehrt. Eine Koalition, in der jede Partei ihr Programm einfach so umsetzt, hat noch niemand erfunden.

Das Finden von Kompromissen war schon immer mühselig, auch als es nur Rote und Grüne oder nur Schwarze und Gelbe miteinander zu tun bekamen. Die neue, dauerhafte Schwierigkeit besteht darin, dass man sich mit jemandem arrangieren muss, der aus dem anderen Lager stammt. Den tieferen Grund für das Scheitern von Jamaika findet man in einem Satz von FDP-Chef Christian Lindner, der scheinbar nur praktisch gemeint war: "Die Klimaziele der Grünen hätte man nicht mit den alten Instrumenten von Quote, Subvention und gesetzlichem Kohleausstieg angehen sollen, sondern mit liberaler Technologieoffenheit und einem marktwirtschaftlichen CO₂-Handel."

Zum Ausdruck kam darin, was inzwischen die Herausforderung ist: dass sich Gruppen einigen müssen, die konträre Menschenbilder haben. FDP-Leute sind tendenziell Optimisten, die weiterhin glauben, dass der Markt über den Wettbewerb bei Qualität und Preisen zugleich das Gemeinwohl organisiert. Grüne sind eher Pessimisten, für die die Erderhitzung der ultimative Beweis ist, dass dieser Markt eine Unternehmung zu Lasten aller ist und eingehegt werden muss. Für die SPD bleibt ein gewisses Misstrauen in den Markt ohnehin konstituierend; umgekehrt werden es in der Union viele nie kapieren, woher die Sozis eigentlich ihr Zutrauen in die Weisheit des lenkenden Staats nehmen.

Berufspolitiker mögen zwar Profis sein, deren Job es gefälligst ist, solche Unterschiede zu überwinden, irgendwie. Aber sie handeln eben nicht losgelöst von ihren Wählern, wie oft unterstellt wird; das dritte Klischee. Sigmar Gabriel schreibt im Spiegel, der Umweltschutz sei seiner SPD manchmal wichtiger gewesen als der Erhalt von Arbeitsplätzen. Er sucht also sein Heil darin, ein Ziel gegen das andere auszuspielen. Die CSU wiederum bereitet gerade eine Flüchtlingspolitik vor, die auf Wähler zielt, die sie an die AfD verloren hat - die aber auch den Anschein erweckt, dass sie bei den Sondierungen mit der SPD ins Misslingen verliebt ist. Soll das der Wählerauftrag sein: sich nach Wahl- und Umfragekatastrophen von Panikattacken überwältigen zu lassen?

Dies ist eine Zeit, in der es beide Wählertypen gibt: diejenigen, denen Lager nicht mehr so wichtig sind und die in einem übergreifenden Bündnis auch die Chance sehen, vom Menschenbild des anderen zu profitieren; und diejenigen, denen ein solches Bündnis die letzten Gewissheiten nimmt. Einen Wählerauftrag hergebrachter Art kann es in einer solchen Zeit nicht mehr geben. Jede Regierungsbildung wird etwas für Pioniere; wozu sie sich trauen sollen, wissen sie noch selber nicht.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: