Schottland vor Votum über Unabhängigkeit:Die alles entscheidende Frage nach der eigenen Identität

Schottland vor Votum über Unabhängigkeit: Team Schottland gegen Team Westminster: Befürworter eines unabhängigen Schottlands bei einer Demonstration in Glasgow.

Team Schottland gegen Team Westminster: Befürworter eines unabhängigen Schottlands bei einer Demonstration in Glasgow.

(Foto: AP)

Die Befürworter einer Abspaltung Schottlands betonen in ihrer Kampagne immer wieder, dass sie anders sein wollen als die Engländer. Dennoch ging es in den Diskussionen fast nie um die eigentliche Frage: die nach der nationalen Identität der Schotten. Ist es ihnen möglich, sich gleichermaßen schottisch und britisch zu fühlen? Oder brauchen sie einen eigenen Staat?

Kommentar von Christian Zaschke

Im wohl berühmtesten schottischen Film "Trainspotting" von 1996, der von Heroin-Abhängigen in Edinburgh handelt, hält die Hauptfigur Renton eine kleine Rede über Schotten und Engländer und fasst damit sehr gut zusammen, was eine Mehrheit der Schotten dazu bewegen könnte, für einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich zu stimmen. "Wir sind von Wichsern kolonisiert worden", sagt Renton und fragt: "Was sagt das über uns?"

Der Satz ist in Schottland ein geflügeltes Wort, und er sagt etwas Wichtiges darüber, wie zu viele Schotten bis heute über ihre nationale Identität denken: immer im Verhältnis zu Engländern.

Team Westminister gegen Team Schottland

Als in den vergangenen Tagen Politiker aus dem Süden des Landes in Scharen in Schottland einfielen, um für den Fortbestand der Union zu werben, wurden sie vom schottischen Ministerpräsidenten Alex Salmond als "Team Westminster" verspottet, das gegen "Team Schottland" chancenlos sei.

Ganz bewusst hat Salmond diese Dichotomie benutzt. Dort das Establishment aus London, unglaubwürdig, ermattet, elitär. Hier die Bürger des Landes, das den letzten Schritt in die Unabhängigkeit machen will - mutig, frisch und vor allem: anders als die Engländer. Im Grunde genau wie vor 700 Jahren, als das zahlenmäßig unterlegene schottische Heer die Engländer in der Schlacht von Bannockburn vernichtend besiegte, was dazu führte, dass Schottland wenige Jahre später unabhängig wurde.

Grundton aus Kleingeist und Abgrenzung

Salmond betont wieder und wieder, dass die Kampagne der Befürworter eine durchweg positive sei, in der es um ein neues, gerechteres Schottland gehe. In Wahrheit schwingt in der Kampagne immer ein an die Engländer gerichteter Satz mit: Wir wollen anders sein als ihr. Unter der heiteren, bisweilen mitreißenden Melodie der Kampagne klingt ein leiser, aber hörbarer Grundton, wie er wohl allen nationalistischen Kampagnen innewohnt: ein Grundton aus Ressentiment, Kleingeistigkeit und Abgrenzung.

Es spricht sehr für die Diskussionskultur in Schottland, dass sich dennoch eine Debatte entfaltet hat, die teils auf herausragendem Niveau geführt wurde. Es schien, als ob das ganze Land in eine genuin politische Diskussion versunken sei. In Stadthallen und Gemeindezentren kamen Menschen zusammen, auf Marktplätzen und in Fußgängerzonen und natürlich im schottischen Äquivalent zur antiken Agora: im Pub.

Schon jetzt hat das Regionalparlament weitreichende Befugnisse

Es ging in diesen Diskussionen um den Wohlfahrtsstaat, um den Nationalen Gesundheitsdienst, um eine künftige Währung, um Altenbetreuung und freien Zugang zu Bildung. Bemerkenswerterweise ging es fast nie um die eigentliche Frage, die die Schotten am Donnerstag beantworten müssen: die Frage nach ihrer Identität. Ist es ihnen möglich, sich gleichermaßen schottisch und britisch zu fühlen? Oder brauchen sie einen eigenen Staat, um eine Identität zu entwickeln, die sich nicht aus der Abgrenzung erklärt?

Alle anderen Aspekte sind im Kern Fragen der Tagespolitik und verstellen den Blick aufs Wesentliche. Schon jetzt hat das schottische Regionalparlament weitreichende Befugnisse. Es hat zum Beispiel entschieden, dass es, anders als in England, keine Studiengebühren gibt, oder dass ältere Menschen keine Rezeptgebühr zahlen. Entscheidungen, die den schottischen Teil des Nationalen Gesundheitsdienstes betreffen, werden in Schottland getroffen. Im Falle eines Neins zur Unabhängigkeit würden diese Befugnisse maßgeblich erweitert und beträfen auch die Steuererhebung. Das andere, das gerechtere Land zu schaffen, wie es bei den Befürwortern heißt, ist auch als Teil des Vereinigten Königreichs möglich.

Die Union ist eine Erfolgsgeschichte

Ein Hauptargument der Befürworter ist, dass Schottland größtenteils linksliberal wählt und doch oft von Konservativen aus London regiert wird. Dieses Argument geht davon aus, dass die politische Identität von Regionen unveränderlich sei - und übersieht, dass auch Schottland lange konservativ gewählt hat.

TRAINSPOTTING - NEUE HELDEN

Szene aus dem berühmtesten schottischen Film "Trainspotting".

(Foto: OBS)

Die aktuelle Unbeliebtheit der Tories geht auf Margaret Thatcher zurück, die die Schwerindustrie zerstörte und in beispielloser Herablassung an den Schotten ausprobierte, wie eine Kopfsteuer im Land ankäme. Aus Abneigung gegen die Tories für die Unabhängigkeit zu stimmen wäre kurzsichtig und geschichtsvergessen. Und auch in Westminster kommen und gehen konservative Regierungen.

Ungeahnte Aufstiegschancen für viele Schotten

Die Union kam 1707 auch deshalb zustande, weil Schottland eine Kolonie in Panama aufbauen wollte, darüber spektakulär pleitegegangen war und von England gerettet werden musste. Seither haben sich enge Bande entwickelt. Das Establishment in Edinburgh fühlt sich London näher als den Highlands, in Glasgow sieht man sich anderen ehemaligen Industriestädten des Nordens wie Liverpool, Manchester und Leeds verbunden.

Für viele Schotten boten sich in der Union ungeahnte Aufstiegschancen. Sie waren plötzlich Bürger eines Empires, in dem in seinen besten Tagen die Sonne niemals unterging. Sie übernahmen wichtige Posten im Staat, immer wieder wurden Schotten Premierminister, zuletzt Gordon Brown. Schotten spielten und spielen eine herausragende Rolle in der britischen Armee.

Die Unabhängigkeit wäre kraftraubend und teuer

Als sich Irland 1921 vom Vereinigten Königreich lossagte, tat es das nach einer Geschichte der Erniedrigung und Unterwerfung durch England. Diese Leidensgeschichte ist bis heute wichtiger Teil der irischen Identität. Wenn die Schotten auf ihr Verhältnis zu den Engländern blicken, können sie keine identitätsstiftende Geschichte des Leidens erzählen. Im Gegenteil: Die Geschichte der Union ist eine Geschichte des Erfolgs. Die beiden Länder sind politisch und kulturell miteinander verwoben und profitieren voneinander.

Wenn die Einwohner Schottlands nun für die Unabhängigkeit stimmten, träte das Land in eine kraftraubende Phase von Verhandlungen ein, die sowohl Schottland als auch England jahrelang lähmen würde. Die Wirtschaftskraft beider Länder litte, die Schaffung neuer Strukturen verschlänge Unsummen, allein die Neuorganisation des Militärs ist kaum zu bezahlen. Dennoch sind viele Schotten der Ansicht, dass es das wert ist. Und es sind allein die Schotten, die diese Entscheidung jetzt treffen können.

Unheilbarer Minderwertigkeitskomplex?

Wenn sie nicht für die Unabhängigkeit stimmten, wären sie weiterhin beides: schottisch und britisch. Das bedeutet eine weiter gefasste Identität, die der schottischen Geschichte Rechnung trägt. Was die konkrete politische Gestaltung angeht, so haben die Schotten auch bei einem Nein alle Möglichkeiten. Das Vereinigte Königreich zu verlassen wäre in letzter Konsequenz nur das Eingeständnis, dass ein stolzes Land unter einem unheilbaren Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Engländern leidet.

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