Ukrainischer Vorstoß in Kursk:Ukrainischer Vorstoß wird langsamer

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Ukrainische Soldaten an der Grenze zu Russland (Foto: Roman Pilipey/AFP)

Die Armee dringt weiter nach Russland vor, verzeichnet aber Verluste. Eine hohe Zahl russischer Kriegsgefangener soll zum Faustpfand in Verhandlungen mit Russland werden.

Von Sebastian Gierke

Vor zehn Tagen überschritten die ersten ukrainischen Soldaten die Grenze nach Russland. Seitdem berichtet das russische Verteidigungsministerium täglich, die Situation sei unter Kontrolle. Doch noch dringen ukrainische Trupps täglich weiter vor.

Gesicherte Informationen gibt es immer noch wenige. Der ukrainische Oberkommandierende Oleksandr Syrskyj berichtete Präsident Wolodimir Selenskij, man sei in einigen Richtungen zwischen ein und drei Kilometer vorangekommen, habe zusätzliche 40 Quadratkilometer erobert.

Klar ist, dass die Ukraine weiterhin die Initiative innehat, auch wenn russische Truppen den Vorstoß deutlich verlangsamen konnten. Immer mehr Bilder von in Kursk getöteten oder gefangengenommen ukrainischen Soldaten werden veröffentlicht. Auch die Verluste bei gepanzerten Fahrzeugen scheinen hoch. Nach eigenen Angaben kontrolliert Kiew mittlerweile mehr als 1000 Quadratkilometer. Diese Angabe kann nicht unabhängig überprüft werden. Das Institute for the Study of War (ISW) hat errechnet, dass die ukrainischen Verbände auf einer Fläche von etwa 800 Quadratkilometern vorgerückt sind. Aktuell scheint es, als würden beide Seiten vermehrt Verteidigungsstellungen errichten. Für die ukrainischen Verbände ist von zentraler Bedeutung, die eigene Versorgung mit Nachschub in Russland sicherzustellen.

Ukraine setzt Kampfjets ein

Besonders heftige Kämpfe finden aktuell im Nordosten der besetzten russischen Gebiete statt. Hier versuchen die Ukrainer wohl, zu der Ortschaft Korenewo vorzustoßen. Auch aus dem Gebiet um Sudscha und der Region südöstlich davon werden intensive Gefechte gemeldet. Sudscha ist nach ukrainischen Angaben komplett unter ukrainischer Kontrolle, Russland widerspricht. Verstärkte ukrainische Angriffe werden aktuell außerdem aus dem Westen der Region Kursk bei der Ortschaft Girji gemeldet. Bekannt ist mittlerweile auch, dass ukrainische Spezialeinheiten immer wieder schnell in kleine Ortschaften vordringen, dort Bilder machen, sobald aber russische Reserven anrücken, sich wieder zurückziehen. Auch deshalb ist es aktuell unmöglich, genau zu bestimmen, wie viel russisches Gebiet unter ukrainischer Kontrolle ist.

Bemerkenswert ist, dass die Ukraine in der Grenzregion Kampfjets einsetzt und Ziele in Kursk aus der Luft mit Gleitbomben angreift. Das bedeutet nicht, dass die Ukraine in Kursk Lufthoheit hat, spricht aber dafür, dass die ukrainische Luftwaffe aktuell davon ausgeht, die russische Flugabwehr in diesem Gebiet ausreichend unterdrückt zu haben. Luftunterstützung hatten ukrainische Bodentruppen bislang im Krieg kaum zur Verfügung.

Die russischen Streitkräfte scheinen immer noch Probleme mit der Kommandostruktur, mit Zuständigkeiten, Kommunikation und der Abstimmung zwischen den schnell herbeigeschafften Verbänden zu haben. Immer wieder dringen kleinere ukrainische Verbände auch weiter südlich, in der Region Belgorod, auf russisches Gebiet vor. Dabei scheint es sich aktuell aber nur um Probeangriffe zu handeln, um die russische Verteidigung zu testen. Möglicherweise dienen diese Vorstöße auch der Ablenkung. Dennoch hat das russische Katastrophenschutzministerium am Mittwoch nach der Oblast Kursk auch für das Gebiet Belgorod den föderalen Ausnahmezustand ausgerufen. Mindestens 200 000 Russen aus Kursk und Belgorod mussten nach offiziellen russischen Angaben bereits ihre Häuser und Wohnungen entlang der Grenze verlassen.

Immer klarer wird, dass die Ukraine mit der Operation mehrere Ziele verfolgt. Die größten militärischen Konsequenzen hätte es, könnte man Russland zwingen, Verbände aus der Ukraine abzuziehen. Damit würden die russischen Streitkräfte innerhalb der Ukraine geschwächt. Ob das gelingt, ist unsicher. Allerdings dürften einige Reserven, die eigentlich zur Ablösung abgenutzter Verbände in der Ukraine vorgesehen waren, jetzt nach Kursk umgeleitet werden. Das ISW hat außerdem Berichte russischer Quellen ausgewertet, in denen es heißt, dass zumindest Teile irregulärer russischer Einheiten aus der Region Donezk abgezogen und nach Kursk verlegt worden seien. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Bislang hat der Druck im Donbass nicht nachgelassen.

Insgesamt dürften weit über 1000 russische Soldaten, darunter viele Wehrpflichtige, festgesetzt worden sein

Selenskij erklärte, dass der Vorstoß vor allem den Druck auf Moskau erhöhen soll, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen. Ein gerechter Frieden komme auf diese Weise näher, erklärte er. Die eroberten Gebiete könne Kiew bei Verhandlungen als Faustpfand nutzen. Das Außenministerium in Kiew hatte betont, dass die ukrainische Seite, anders als Russland, fremdes Gebiet nicht dauerhaft besetzen wolle. Selenskij sagte zudem, die neu gemachten russischen Kriegsgefangenen würden gebraucht, um sie gegen ukrainische Soldaten auszutauschen. Erst am Mittwoch veröffentlichte die Ukraine Bilder von der Gefangennahme von 102 feindlichen Soldaten. So viele wurde in diesem Krieg bislang noch nie auf einmal gefangengenommen. Insgesamt dürften weit über 1000 russische Soldaten, darunter viele Wehrpflichtige, festgesetzt worden sein. Nach Informationen der Financial Times finden bereits erste Gespräche über einen Gefangenenaustausch statt.

Selenskij wirkt bei seinen täglichen Ansprachen so zuversichtlich wie seit Wochen nicht mehr. Der russische Präsident Wladimir Putin ist dagegen sehr verärgert, das haben mehrere Quellen aus seinem Umfeld mittlerweile bestätigt. Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass ausländisches Militär russisches Territorium besetzt hat. Offiziell sollen das Verteidigungsministerium, die Nationalgarde und der Inlandsgeheimdienst FSB wieder Sicherheit in Kursk herstellen. Doch der Präsident hat überdies, wie mehrere Quellen berichten, mit Alexej Djumin seinen ehemaligen persönlichen Leibwächter und einen seiner engsten Vertrauten beauftragt, die militärischen und zivilen Gegenmaßnahmen zu überwachen und ihm direkt Bericht zu erstatten.

Putin hatte Djumin im Mai zum Sekretär des einflussreichen Staatsrats ernannt. Jetzt ist er dafür zuständig, eine Situation unter Kontrolle zu bringen, die laut Verteidigungsministerium nie außer Kontrolle war.

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