Vor dem Büro der Wahlkommission in Bengasi stehen neuerdings zwei Pickups mit 14,5-mm-Maschinengewehren darauf, aber Ibrahim Fallah beruhigt das wenig: "Die Angreifer werden wiederkommen, bestimmt. Außerdem: Die Milizen haben die Anweisung, nicht zu schießen, wie wollen sie uns da schützen?"
Ibrahim, eigentlich Ingenieur, ist ein freiwilliger Wahlhelfer, und obwohl die Scherben weggeräumt und neue Computer beschafft wurden, steckt ihm der Schock noch in den Knochen. Am vergangenen Sonntag stürmte ein Mob das Gebäude, demolierte die Einrichtung und verbrannte Wahlunterlagen. Hätte es nicht Kopien der Dokumente gegeben, wer weiß, ob Bengasi überhaupt hätte wählen können. "Wir bewahren die Papiere jetzt im Auto auf", sagt Ibrahim. "Für alle Fälle."
"Barqa" hatten die Angreifer an die Wand gesprüht, den arabischen Namen für die Cyrenaika, den Ostteil Libyens. Für Ibrahim liegt auf der Hand: Hinter dem Angriff stecken die radikalen Föderalisten. Männer wie Juma Assaiti beispielsweise, der eher schwach dementiert: "Ich bin dafür, die Wahlunterlagen zu verbrennen, aber fremdes Eigentum zu zerstören - nein, das geht nicht."
Föderalismus als Kampfbegriff
Assaiti ist Stabschef des neuen Cyrenaika-Rates, den Stammesführer und einige Intellektuelle im März ausgerufen hatten, im politischen Vakuum der Übergangszeit. Sie wollen keine eigene Armee oder eigene Grenzen, hatten aber eine Art Halbautonomie erklärt und eine regionale Regierung präsentiert mit Ahmed Subair al-Senussi an der Spitze, einem Verwandten des 1983 gestorbenen Königs Idris. Zwar hatten sich weder die mächtigen Milizen noch nennenswerte Teile der Bevölkerung hinter die Forderung gestellt, aber "Föderalismus" war als Kampfbegriff etabliert. Der Nationale Übergangsrat drohte mit schwersten Konsequenzen. Für die Wahl ist es eine weitere Belastungsprobe.
In der neuen Generalversammlung nämlich, so die Kritik aus Bengasi, soll Tripolitanien im Westen 100 Sitze bekommen, Cyrenaika im Osten 60 und Fezzan im Süden 40. Dies aber ist nach Ansicht von Juma Assaiti eine schreiende Ungerechtigkeit, basierend einzig auf den Bevölkerungszahlen, dabei sei Cyrenaika größer als Tripolitanien - und vor allem besitze es Libyens Öl. Und dass die Generalversammlung später eine 60-köpfige Verfassungskommission ernennen soll, in der die drei Regionen mit je 20 Sitzen gleichberechtigt vertreten sind, versöhnt ihn nicht. Er, Juma, und seine Freunde wollen erst eine Verfassung schaffen: "Wir brauchen diese Generalversammlung nicht."
Ein Land, nicht zwei
"Zwei Prozent, mehr nicht. Zwei Prozent sind gegen die Wahlen, der Rest in Bengasi will wählen", sagt Schahat Awami, frisch gewählter Bürgermeister der Stadt. Nach dem Überfall auf die Wahlkommission demonstrierten Tausende für die Wahlen, sie wollen vorankommen nach 42 Jahren Gaddafi, nach Aufstand, Krieg und Ungewissheit. Und doch, so sehr die Menschen die Gewalt der Radikalen ablehnen, ihre Klagen teilen sie. Bildung, Jobs, Finanzen - alles kontrolliere Tripolis, so heißt es. Im Osten wird das Öl gefördert, aber in Tripolis sitzen die Ölfirmen.
Studenten aus dem Osten bekommen keine Stipendien, es fehlen Jobs, Straßen, Selbstbestimmung. Gaddafi hatte den Osten jahrzehntelang vernachlässigt, auch dies war ein Grund für den Sturz. Bengasi war die Wiege des Aufstands, die Menschen sagen: Wir haben Libyen befreit, nun muss es endlich anders werden.
Vier Tage vor der Wahl dann eine rührende Geste der Solidarität aus Tripolitanien: Eine Delegation aus Sawija, westlich von Tripolis, ist nach Bengasi gereist, um Sawijas Sitze in der Generalversammlung anzubieten. Natürlich geht das nicht, da müsste man ja die Wahlgesetze neu schreiben. Aber Hunderte bejubeln die Abordnung vor dem Gerichtsgebäude am Meer in Bengasi, wo der Aufstand gegen Gaddafi begann. "Hau ab, Subair!", rufen sie dem Königsspross zu. Und: "Wir sind ein Land, nicht zwei."