Süddeutsche Zeitung

Vor der Landtagswahl in NRW:Liebe Wähler, bitte einigt euch!

Bloß keine Kieler Verhältnisse: Mit Appellen an die Wähler versuchen die Parteien in Nordrhein-Westfalen, wenige Stunden vor der Landtagswahl Unentschlossene zu mobilisieren. Rot-Grün will ein knappes Ergebnis wie in Schleswig-Holstein verhindern, die CDU unbedingt über der 30-Prozent-Marke bleiben. Eitel Sonnenschein herrscht nur bei der FDP.

Michael König, Düsseldorf

Die Landesmutter hat kalte Füße. Annegret Kramp-Karrenbauer ist in Ballerinas nach Köln gereist. Am Vortag war es hier noch sommerlich warm, jetzt zeigt das Thermometer zehn Grad Celsius. Die Haut der saarländischen Ministerpräsidentin färbt sich in den offenen Schuhen leicht bläulich. Eine halbe Stunde steht sie das durch, ihrem Parteifreund Norbert Röttgen zuliebe. Der wimmelt ein britisches Fernsehteam ab ("Sorry, but I would like to get in contact with some people") und versucht, Rosen zu verteilen. Doch Kramp-Karrenbauer und Röttgen bleiben von den Kölnern weitgehend unbehelligt.

"Sie sehen müde aus", sagt ein älterer Herr zu ihm. "Sie sollten Pause machen." Röttgen versucht ein Lächeln. "Na, ist ja bald geschafft", sagt der Spitzenkandidat der Union.

Nordrhein-Westfalen wählt am Sonntag einen neuen Landtag. Das steht fest. Alles andere ist nicht so sicher. Das bringt die Wahlkämpfer zum Verzweifeln.

[] Die bisherigen Regierungsparteien SPD und Grüne haben in manchen Umfragen eine knappe Mehrheit. In anderen fehlt ihnen dazu genau ein Sitz im Parlament. So war es schon 2010, als Rot-Grün eine Minderheitsregierung einging. Eine solche Konstellation wollen beide Parteien diesmal unbedingt verhindern. Sie werben mit einem "Dreiklang" aus Einsparungen, Investitionen und Verbesserung der Einnahmen. Die Opposition hält ihnen vor, trotz guter Wirtschaftslage neue Schulden zu machen.

[] Die CDU hatte sich große Chancen ausgerechnet, als Rot-Grün Mitte März am Haushaltsentwurf für 2012 gescheitert war. Doch nach zahlreichen Patzern im Wahlkampf fürchtet die Partei eine krachende Niederlage. In Umfragen liegt sie bei etwa 30 Prozent. Ein schlechteres Ergebnis könnte eine heftige Personaldebatte und Röttgens Abschied als Landesvorsitzender zur Folge haben. Die Union verspricht eine Konsolidierung des Haushalts, hält sich mit konkreten Sparvorschlägen aber zurück. SPD und Grüne warnen daher vor einem sozialen Kahlschlag, sollte die CDU an die Regierung kommen.

[] Die FDP, vor Wochen noch totgesagt, erhält in NRW großen Zuspruch. Spitzenkandidat Christian Lindner verspricht unter anderem eine Haushaltskonsolidierung durch einen schlankeren Staat. Mit laut Umfragen sechs Prozent oder mehr könnte er zum großen Gewinner der Wahl aufsteigen. Vielleicht kommt es aber auch anders. Der Wähler ist in Nordrhein-Westfalen dieser Tage so unberechenbar wie das Wetter.

In Soest ist am Donnerstag fernes Gewittergrollen zu hören, als Hannelore Kraft ans Mikrofon tritt. Sie steht sicherheitshalber unter einem rotweißen Pavillon, der sich im Wind biegt. Kraft spricht über Kita-Plätze, über das Tariftreuegesetz, über Mindestlöhne. Dann hält sie inne. "Ich habe eine kurze, herzliche Bitte", sagt die Ministerpräsidentin. "Am Sonntag ist Muttertag, einige Kinder haben Kommunion, und Formel 1 ist auch, glaube ich. Es gibt also Gründe, warum man die Wahl vergessen kann. Aber ich bitte Sie, gehen Sie hin und geben Sie der SPD Ihre Stimme. Wir wollen weitermachen." Es klingt beinahe flehentlich.

Kraft will anschließend mit Bürgern reden, aber sie kommt kaum unter dem Pavillon hervor. "Sie haben mir echt aus dem Herzen gesprochen", sagt eine junge Mutter. "Sagen Sie weiter die Wahrheit", ruft eine Rentnerin. Kraft bedankt sich, arbeitet Autogramm- und Fotowünsche ab, trinkt einen Kaffee. Die 50-Jährige hat die Rolle der Landesmutter in zwei Jahren Amtszeit absolut verinnerlicht. Die Genossen drängen sich um sie, als wollten sie sich an ihr wärmen. Kaum hat Kraft den Marktplatz verlassen, fängt es heftig an zu regnen.

In Düsseldorf bleibt es tags darauf bei einigen Tropfen. Es waren bis zu 20 Grad vorhergesagt, aber es ist kalt, zu kalt für ein leichtes Sakko, wie Cem Özdemir es trägt. Der Bundesvorsitzende der Grünen zieht fröstelnd die Schultern hoch. Vor ihm stehen und sitzen etwa 50 Menschen. Eine Direktkandidatin spricht versehentlich vom "Wahlkrampf" der vergangenen Wochen. Ein anderer klagt im Hinblick auf die Piraten, er habe sich "schon um Transparenz gekümmert, als es unsere neue Konkurrenz noch gar nicht gab". Der Moderator fragt das Publikum, wie die Nudeln mit roter und grüner Sauce schmecken, die gratis verteilt werden. Er erhält keine Antwort. Özdemir schaut mit düsterer Miene gen Himmel.

Für die Grünen ist es ein schwieriger Wahlkampf. Ihre Umfragewerte liegen seit Wochen stabil bei etwa elf Prozent. "Ausmobilisiert" sei die Partei, heißt es. Mehr Wähler seien kaum zu erreichen. Viele junge Menschen wählen lieber die Piraten, die mit ihren Transparenz- und Mitbestimmungsversprechen auf bis zu neun Prozent taxiert werden. Die Piraten gelten als hip, die Grünen als Anhängsel der SPD. Tatsächlich war es Sylvia Löhrmann, die Hannelore Kraft zu einer Minderheitsregierung drängte. Um sich an der Macht zu beweisen, um dann bei Neuwahlen eine komfortable rot-grüne Mehrheit einzufahren. Der Plan könnte scheitern.

Löhrmann steht in Düsseldorf neben dem frierenden Cem Özdemir. Eben haben sie Norbert Röttgen dafür verspottet, die Landtagswahl zur Abstimmung über die Europa-Politik erklärt zu haben. Jetzt wählt Löhrmann in einem Appell an die Zuhörer selbst den großen, den überwölbenden Kontext: "Rot-Grün in NRW ist auch ein Vorzeichen für die Ablösung der Regierung von Frau Merkel im Bund", sagt Löhrmann. "Wählen Sie die Grünen, sonst kommt am Ende raus, dass Frau Kraft mit einem Herren von der CDU regiert. Das wollen wir nicht und das wollen Sie nicht."

Eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP spielt im Wahlkampf keine Rolle. Grüne und Liberale sind einander spinnefeind. Hinzu kommt das gewaltige Selbstbewusstsein der FDP, das am Freitagabend in Köln zu besichtigen ist.

Die Liberalen haben sich unabhängig gemacht vom Wetter. Ihre Veranstaltung findet im Saal der Kölner Wolkenburg statt, einem Veranstaltungsort für bessere Gesellschaften. Über einen roten Teppich schreitet Spitzenkandidat Christian Lindner in den ersten Stock. "Jetzt geht es los", ruft er, als er den Saal betritt. Eine Sängerin stimmt "What a feeling" an, den Gute-Laune-Song aus der Bacardi-Werbung.

An der Decke hängen vier schwere Kronleuchter. Vier Prozent waren der FDP als Wahlergebnis prognostiziert worden, inzwischen gelten sieben Prozent als erreichbare Marke. "Viele Wähler haben nach der Bundestagswahl 2009 in den Stand-by-Modus geschaltet", sagt Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, der erste Redner. "Aber jetzt sind sie wieder online, jetzt hören sie uns wieder zu." Die Gäste applaudieren. Sie klatschen frenetisch, als mit 40-minütiger Verspätung Außenminister Guido Westerwelle den Saal betritt, der 2011 aus dem Amt des Parteivorsitzenden gejagt worden war, weil ihm die Krise der Partei angelastet wurde.

Als Christian Lindner spricht, springen die Anwesenden sogar applaudierend auf. Der Spitzenkandidat ist rhetorisch gewohnt brilliant, er geizt nicht mit Seitenhieben auf die Konkurrenz. Das einzige Wahlziel der Union sei es, an der Regierung beteiligt zu sein. "Die Grünen haben sich nach der Auflösung des Landtages schon überlegt, welche Wahlkreise sie direkt holen könnten", sagt Lindner und schickt ein meckerndes Lachen hinterher: "Hehehehe." Seine Zuhörer johlen.

Eine "Politik auf Pump" sei mit ihm nicht zu machen, betont Lindner. "Das ist unsere Koalitionsbedingung". Der Appell an die Wähler fällt bei ihm deutlich kürzer aus. Der Applaus für ihn umso länger. Wer anschließend Reaktionen auf die Rede einholen will, muss nicht lange suchen. Der Redebedarf manch eines Liberalen ist so groß, dass er nicht einmal die Frage abwartet. "Die Krise ist vorbei. Unser Ergebnis wird die größte Überraschung der Wahl", sagt ein älterer Mann mit Schnauzbart. "Wir standen bei zwei Prozent, wir bekommen sicherlich sieben. So einen Drive hat es in einem Wahlkampf selten gegeben."

Den Drive, den Antrieb, sucht Norbert Röttgen am Samstag in Köln vergebens. Es ist einer seiner letzten Auftritte vor der Wahl. Röttgen bemüht sich, er geht den Menschen entgegen. "Sie brauchen nicht zurückweichen", sagt er zu einer Frau. Ein junges Ehepaar bleibt stehen und schüttelt Röttgen lange die Hand. Röttgen zieht weiter, der Mann blickt ihm lange nach. "Ein brillianter Analytiker" sei der CDU-Mann, sagt er. "Aber er wird es wohl nicht schaffen. Die Leute schauen doch zu sehr auf die Persönlichkeit, nicht auf Inhalte. Es ist ein Jammer."

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