Vor dem Nato-Gipfel:Deutschland, die verlorene Nation

Die Nato steht an einem historischen Wendepunkt. Sie müsste eigentlich erklären, wie sie in Zukunft noch relevant bleiben will. Doch die militärische Schwäche Deutschlands schadet dem Bündnis - vor allem, seit sich unser Land im Angesicht einer rasch heraufziehenden humanitären Katastrophe in Libyen ins Abseits stellte. Die USA sind zurecht enttäuscht von Deutschland.

Ulrich Weisser

Die Regierungschefs der NATO werden uns nach dem Gipfel in Chicago wieder weismachen wollen, dass die Allianz in bester Verfassung ist und unsere gemeinsame Zukunft sichert. Tatsächlich kann diese immer wieder bemühte Kommuniqué-Sprache aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der diesjährige Nato-Gipfel in Chicago am 20. und 21. Mai wesentliche Fragen unbeantwortet lassen wird.

Chicago vor NATO-Gipfel

Schlechte Aussichten für die Nato: Der Gipfel in Chicago wird keine Antworten auf die drängendsten Fragen finden.

(Foto: dpa)

Das Bündnis steht an einem historischen Wendepunkt. Es müsste eigentlich erklären, wie es in Zukunft noch relevant bleiben will. Dazu gehört, Antworten auf Kernfragen zu geben, die das strategische Weltbild verändern. Zum einen gilt es Konsequenzen daraus zu ziehen, dass die USA ihre strategischen Prioritäten in Richtung Pazifik verschoben haben und bei begrenzten Ressourcen zwangsläufig weniger in Europa präsent und engagiert sein werden.

Selbst bei dramatisch nachlassenden Verteidigungsanstrengungen Amerikas soll die Qualität und Quantität der pazifischen US-Präsenz keinesfalls gemindert werden. Im Gegenteil. Washington hat dabei nicht zuletzt potentielle Krisen im Auge - auf der koreanischen Halbinsel, in der sich womöglich verändernden Rolle Japans, in der Bewahrung der Sicherheit Taiwans, aber auch im Verhältnis Pakistans zu Indien vor dem Hintergrund der Kaschmir-Problematik und im Verhältnis zwischen Indien und China.

Diese Entwicklung muss nicht nachteilig für uns sein; denn erstens haben die Europäer ein vitales Interesse daran, dass im asiatisch-pazifischen Raum Stabilität herrscht und die USA als pazifische Schutzmacht eben diese Stabilität angesichts des unübersehbaren Krisen-und Konfliktpotentials gewährleisten und sich in dieser Konstellation mit China ergänzen.

Zum anderen wird diese Entwicklung fast zwangsläufig dazu führen, dass Europa seine Verteidigungsanstrengungen bündeln muss und dadurch nicht nur eine tiefere Integration auf dem Verteidigungssektor erzielt, sondern die Europäer sich auch in die Lage versetzen, ihre Streitkräfte zu beherrschbaren Kosten modern zu halten. Heute halten fast alle Nationen daran fest, ihre Verteidigung autonom zu organisieren. So aber können sie ihre Streitkräfte nicht für die vierdimensionalen Operationen im 21. Jahrhundert interoperabel mit den US-Streitkräften ausstatten.

Deutschland gilt in diesem Zusammenhang als wenig vertrauenswürdig. Die Erwartung unserer wichtigsten europäischen Bündnispartner und Amerikas, dass Deutschland eine angemessene strategische Rolle in und für Europa übernehmen würde, wurde bitter enttäuscht, als sich unser Land im Angesicht einer rasch heraufziehenden humanitären Katastrophe in Libyen ins Abseits stellte. Die Stimmenthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat hat weitreichende Folgen.

Die deutsche Haltung steht zudem im diametralen Gegensatz zu den künftigen Notwendigkeiten europäischer Sicherheit; denn bei nachlassendem Engagement der USA in Europa werden die Europäer künftig Krisen allein bewältigen müssen. Dieses historische Versagen passt zu den vielen Auflagen (Caveats) von Bundesregierung und Parlament, die den deutschen Soldaten im Einsatz bei der Piratenbekämpfung und auch in Afghanistan die Hände gebunden haben und sie nicht dieselben Risiken tragen ließen wie ihre Nato-Kameraden.

Lackmustest Raketenabwehr

Schließlich ist in Washington und andernorts aufgefallen, dass die Bundeswehr zwar die notwendigen Reformen eingeleitet hat, jedoch dieser Prozess völlig unterfinanziert ist. In einem Zustandsbericht der Allianz für den Chicagoer Gipfel stellt der renommierte "Atlantic Council" fest, Deutschlands militärische Schwäche und seine von Risikoscheu geprägte Verhaltensweise seien das größte Problem, das die Nato habe. Von Deutschland wird als einer verlorenen Nation - einer "lost nation" - gesprochen.

Mittlerweile beginnt man in der Bundesregierung die Folgen dieser verfehlten und für unser Land gefährlichen Politik zu begreifen. In der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zum Nato-Gipfel machte sie ebenso wie der Verteidigungsminister im Nato-Rat deutlich, das Problem sei erkannt.

Bislang hat die Bundesregierung sich auch nicht besonders darin hervor getan, für das Verhältnis der Nato zu Russland Fortschritte zu erzielen. Das Bündnis hat in der entscheidenden Frage, nämlich ob und wie ein gemeinsames Raketenabwehrsystem aufgebaut werden kann, keine substantielle Bewegung erreicht. Russland hat seit langem immer wieder deutlich gemacht, dass die Bereitschaft zur wirklichen gleichberechtigten Zusammenarbeit beim Projekt Raketenabwehr der Lackmustest für die Ernsthaftigkeit der Allianz zur strategischen Partnerschaft und für gegenseitige Transparenz in strategischen Fragen sein würde. Der auf dem Gipfel deutlich werdende Mangel an Kooperationsbereitschaft der Nato ist deshalb mehr als das Scheitern eines Projektes.

Ein Scheitern der ins Auge gefassten gemeinsamen Raketenabwehr würde im Ansatz zerstören, was als erster und wesentlicher Schritt zur Überwindung der veralteten Strukturen beider Seiten dienen kann, wobei sich amerikanische Militärs nicht wesentlich von ihren russischen Kameraden unterscheiden. Die Nato verweigert den Russen aus nicht nachvollziehbaren Gründen nach wie vor die Garantie, dass dieses System sich nicht gegen die strategische Reaktionsfähigkeit Russlands richtet.

Frankreich muss umdenken

Die USA behaupten zwar immer wieder, dass Russland in dieser Frage ganz beruhigt sein könne. Aber die von Moskau geforderte Garantie kommt deshalb nicht zustande, weil Präsident Obama ein entsprechendes Abkommen im Senat billigen und ratifizieren lassen muss, was bei der gegenwärtigen innenpolitischen Konfrontation der beiden Parteien im Kongress ausgeschlossen erscheint - zumal der republikanische Präsidentschaftskandidat Romney meint, dass Russland nach wie vor der gefährlichste Feind sei. Diese Sicht verkennt, dass die gefährlichsten und bedrohlichsten Risiken - radikaler Islamismus und Terrorismus - im Nahen Osten konzentriert sind und damit vor unserer Haustür.

Die Frage, wie das Bündnis seine strategische Relevanz behalten kann, hat bisher keine befriedigende Antwort gefunden. Die Nato hat auch mit Blick auf den Nato-Gipfel nicht vermocht, ein Paket von Vorschlägen zur Zukunft nuklearer Abschreckung, nuklearer Rüstungskontrolle und Raketenabwehr zu schnüren, das für die Russen wirklich interessant ist, die russischen Bedenken berücksichtigt und dessen Ablehnung Russland isolieren würde.

Dazu trug ganz wesentlich die antiquierte Haltung Frankreichs zu allen Nuklearfragen bei. Kein Wunder, dass die russische Staatsführung kein sonderliches Interesse zeigt, am Gipfeltreffen teilzunehmen. Das Bündnis kann sich so nicht fortentwickeln zu einer Völkergemeinschaft, in der Amerikaner und Europäer im Verbund mit Russland willens und fähig sind, ihre vitalen Interessen überall dort wirksam zu verteidigen, wo sie massiv bedroht werden - vor allem wohl im erweiterten Nahen Osten.

Der Autor Ulrich Weisser, Vizeadmiral a.D., war langjähriger Leiter des Planungsstabs im Verteidigungsministeriums und hat verschiedene Bücher zur Nato verfasst.

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