Vor dem Euro-Krisengipfel:Merkels kompliziertes Europa

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Mit harten Worten werfen Opposition und etliche EU-Mitglieder Angela Merkel Zögern vor. Doch die Kanzlerin wägt vor dem Gipfel zur Griechenland-Rettung nur ihre Optionen ab - und das muss nicht so falsch sein. Denn durch harte, schnelle Entscheidungen lassen sich so tief greifende Strukturprobleme wie die Eurokrise nicht lösen.

Kurt Kister

Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein vereintes Europa zuerst eine Utopie über Trümmern. Die Utopie wich einem pragmatischen Konzept, als klar wurde, dass der Kalte Krieg nicht nur die Teilung Deutschlands zunächst zementierte, sondern auch die Teilung Europas. Jenseits ihrer wirtschaftlichen Bedeutung trugen die EWG und später die EG zur Aussöhnung einstiger Erbfeinde im Westen bei.

Angela Merkel und Nicolas Sarkozy versuchen bei einem Spontantreffen vor dem EU-Gipfel noch eine Lösung für ihren Streit zu finden: Doch keiner der europäischen Regierungschefs hat bislang jenes überwölbende Konzept gefunden, das man einleiten könnte mit den Worten: "Wir, die Völker Europas ..." (Foto: AFP)

Andererseits definierte dieses politisch organisierte Europa seine Grenzen nicht historisch-geografisch und schon gar nicht kulturell. Weil Polen oder Ungarn damals zum "Ostblock" gehörten, versperrten sie sich selbst den Zugang zu Europa, der ihnen von diesem (westlichen) Europa auch nicht gewährt werden konnte. Und dennoch stand die Idee Europa für sehr viele Menschen in der Tschechoslowakei, im Baltikum oder in der DDR für Freiheit. Für sie war "Europa" ein Sehnsuchtsort geblieben.

Heute, 20 Jahre nach der Zeitenwende und dem Tod des Ostblocks, ist Europa ein Staatenbund mit 27 Mitgliedern. Zwar hat sich die Utopie der vierziger Jahre nicht erfüllt, aber dennoch ist der Traum von der Freiheit Wirklichkeit geworden. Allerdings sind Träume kurzlebig, sie werden vom Alltag abgelöst. Der EU-Alltag ist so kompliziert wie die politische Verfasstheit der EU. Sie zielt letztlich darauf ab, dass die Nationalstaaten, gerade die großen unter ihnen, Eigeninteressen durchsetzen können, dies aber so gut wie möglich unter dem europäischen Mantel tun wollen. ( Das Treffen zwischen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy am Vorabend des Euro-Sondergipfels ist ein Beispiel für den Versuch, nationale Interessen mit EU-Interessen in Einklang zu bringen - vielleicht aber auch Erstere als Letztere zu definieren.)

Jüngst wurde kolportiert und gleich wieder dementiert, Helmut Kohl habe über Merkel gesagt, sie mache "mein Europa kaputt". Dies ist zwar falsch, würde aber dennoch zu Kohl passen. Er gehört jener Generation an, die getrieben wurde von der Utopie des europäischen Pfingstgeistes über Trümmern. Sein Europa war zuallererst jenes Europa, das Mitterrand und er mit der epochalen Freundschaftsgeste in Verdun feierten. "Europa" hieß, zumal für den Pfälzer Kohl: Nie wieder Krieg in Europa, nie wieder Krieg zwischen Deutschland und Frankreich.

Kohl gehört ohne Zweifel zu den großen europäischen Staatsmännern. Aber auch er wurde von jener Generation im Ostblock überrascht, die den unterschiedlichen Spielarten des sozialistischen Autoritarismus den Garaus machten. Angela Merkel wiederum war zwar keine Aktivistin dieser Selbstbefreiung, aber dennoch ist sie tief von der Erfahrung der Unfreiheit und der Organisation neuer Freiheit geprägt. Wenn Merkel ernsthaft über ihre persönlichen Werte redet, dann taucht immer ihre spezifische Freiheits-Erfahrung auf.

Kohls Europa ist das Europa des "Nie wieder . . .". Je älter Menschen werden, desto mehr neigen sie dazu, die Zustände von heute mit denen vor 40 oder 50 Jahren zu vergleichen. In diesem Sinne geht Kohls Versöhnungs-Europa vielleicht wirklich kaputt. Zumindest wandelt es sich dramatisch.

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In Merkels Europa, das viel komplizierter ist als Kohls Europa, soll die Freiheit so organisiert werden, dass sie zwar gesichert, aber auch anständig verwaltbar bleibt. Merkel will, wie die Mehrzahl der Europäer, keinen Bundesstaat Europa. Sie müht sich ab mit der Aufgabe, Kohls Erbe - also eine zu große, zu schnell erweiterte EU mit erheblichen Unterschieden zwischen Atlantik und Donaudelta - zu erhalten.

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Im Vergleich zu Kohls Europa ist das keine Utopie, keine Vision und vielleicht nicht einmal mehr eine Idee. Aber es kommt auch nicht von ungefähr, dass außer manchen Talkshow-Bewohnern keiner der europäischen Regierungschefs, Minister und Kommissare jenes überwölbende Konzept hat, das man einleiten könnte mit den Worten: "Wir, die Völker Europas . . ."

Ganz typisch für diesen unbefriedigenden, aber wohl normalen Zustand ist Merkels Satz, man solle nun nicht die Lösung der Euro-Krise "mit einem spektakulären Schritt" erwarten. Es wäre schön, wenn das so ginge. All jene, Weise und Nicht-so-Weise, die das insinuieren, sind ebenso voller guter Ratschläge wie ohne politische Verantwortung. Sie müssen auch nicht 27 Staaten unter einen Hut bringen, sondern im Zweifelsfall nur einen Zeitungsaufsatz schreiben.

Ja, Angela Merkel wägt ab. Nein, das muss nicht so falsch sein, wie dies die Opposition hierzulande behauptet und es etliche EU-Mitglieder kolportieren, deren nationale Interessen anders sind als die deutschen.

Nur ein Beispiel: Wenn die EU mit Eurobonds, also eigenen Schuldverschreibungen, Griechenland unter die Arme greift, mag dies gut für Griechenland sein. Es kann aber für Deutschland oder Österreich bedeuten: höhere Zinsen und außerdem eine weit gehende Bindung von Teilen der nationalen Haushalte für die Schulden anderer Staaten.

Mit Pathos, auch mit dem Pathos des Rufs nach harten, schnellen Entscheidungen, erledigen sich keine so tief greifenden Strukturprobleme wie die Eurokrise. Anders als vor Jahr und Tag in Verdun wäre ein Händchenhalten zwischen, sagen wir, Sarkozy und Papandreou vor der Akropolis kein stabilisierendes Symbol, sondern nur lächerlich.

© SZ vom 21.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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