Vor 55 Jahren:"Nieder mit der SED-Diktatur!"

Von Befreiern zu Besatzern zu Unterdrückern: Vor genau 55 Jahren kam es in der DDR, in Moskaus Machtbereich, zur ersten großen Massenerhebung, dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der von der Sowjetarmee blutig niedergeschlagen wurde.

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Volksaufstand vom 17. Juni

Quelle: SZ

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Von Befreiern zu Besatzern zu Unterdrückern: Vor genau 55 Jahren kam es in der DDR, in Moskaus Machtbereich, zur ersten großen Massenerhebung, dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der von der Sowjetarmee blutig niedergeschlagen wurde. Eine Dokumentation in Bildern.

Was als Streik aus Protest gegen erhöhte Arbeitsnormen beginnt, weitet sich zu einer landesweiten Volkserhebung aus: Über eine halbe Million Menschen demonstrieren am 17. Juni 1953 in der gesamten DDR gegen die Politik des Regimes.

Mit deutschen Fahnen marschieren Ostberliner durch das Brandenburger Tor nach Westberlin. Es sind Männer in Arbeitsanzügen, sie wirken wütend und aufgebracht.

Die DDR steckt in der schwersten Krise seit ihrer Gründung vor dreieinhalb Jahren. Am 11. Juni hat die SED auf Befehl Moskaus einen "Neuen Kurs" verkündet. Enteignungen von Bauern und Unternehmern sollen zurückgenommen, politische Gefangene freigelassen, Steuern und Preise gesenkt werden. Der wirtschaftlichen Krise will die SED mit einer Erhöhung der Arbeitsnormen begegnen, also mehr Leistung für denselben Lohn. Alles ist knapp und teuer im jungen Arbeiter- und Bauernstaat. Die Arbeiter fühlen sich von "ihrer" Arbeiterpartei verraten.

Am 16. Juni kommt es zu den ersten Arbeitsniederlegungen an zwei Berliner Großbaustellen. Bereits an diesem Tag gehen die Forderungen über die wirtschaftlichen Belange hinaus: Die Demonstranten wollen einen Rücktritt der Regierung Ulbricht und freie Wahlen.

Am 17. Juni gegen elf Uhr ...

Foto: dpa

Ostberliner Arbeiter hissen die Deutschlandfahne

Quelle: SZ

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Brand des Columbushaus

Quelle: SZ

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Die Demonstrationen formieren sich spontan, es gibt keine Zielplanung, keine überregionale Organisation des Aufstands.

Vereinzelt kommt es zu Brandstiftungen. Am spektakulärsten ist der Brand des HO-Kaufhauses "Columbushaus" am Potsdamer Platz in Berlin. Es kommt zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Demonstrierenden und der Polizei.

Der Augenzeuge Richard Perlia schreibt:

Die West-Berliner Feuerwehr bekämpft gegen den Protest der Demonstranten den Brand des Columbus-Hauses. "Brennen lassen!" schreien wir immer wieder. Noch immer schießen sowjetische Soldaten und Vopos (Volkspolizisten) in die Menge. Helfer vom Deutschen Roten Kreuz retten weiterhin todesmutig Verletzte. Man erzählt mir, daß ein neunjähriger Junge in der Bernauer Straße erschossen worden ist, der in einer Menschenansammlung seine Mutter verloren hatte.

Die Demonstranten fordern freie Wahlen, den Rücktritt der Regierungsfunktionäre und die Einheit Deutschlands. Ein weiterer Zeitzeuge schreibt die Parolen auf, mit der ein Demozug durch die Straßen Berlins zieht: "Nieder mit der SED-Diktatur - für Demokratie!" Vor dem Rathaus skandieren die Sprechchöre "Ulbricht, Pieck und Grotewohl - dass Euch drei der Teufel hol'!".

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Quelle: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Wagen eines SED-Funktionärs

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Der Zeitzeuge Siegfried Berger schreibt über die Demonstration:

Kurz vor der Warschauer Brücke kam dem Demonstrationszug ein Personenwagen mit einer GB-Nummer entgegen. In dem Wagen erkannten die Demonstranten den stellvertretenden Ministerpräsidenten Nuschke. Sofort wurde der Wagen umringt. Der Chauffeur wollte unter Gasgeben davonjagen, aber ein gewitzter Kollege griff durchs Fenster und zog den Starterschlüssel heraus.

Der Zorn einiger Demonstrationsteilnehmer war so groß, daß sie mit Fäusten auf Nuschke und seinen Chauffeur einschlagen wollten, doch konnte man sie davon überzeugen, daß es nicht im Sinn der Demonstration ist, durch Schlägerei die gesteckten Ziele zu erreichen.

Der Wagen eines SED-Funktionärs wurde von Ostberliner Arbeitern umgestürtzt. Foto: AP

Quelle: bpb; Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bestand Ostbüro, 0434b, zit. nach: Siegfried Berger, "ich nehme das Urteil nicht an" - Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem Sowjetischen Militärtribunal, Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Band 8, Berlin 1998, S. 53-55.

Volkspolizisten werfen Uniform aus dem Fenster

Quelle: SZ

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Der Aufstand entwickelt eine solche Dynamik, dass die SED die Kontrolle über die Situation verliert. Volkspolizisten fliehen in den Westen.

Der Augenzeuge Perlia beschreibt die Situation am Columbus-Haus am Potsdamer Platz folgendermaßen:

Am Fenster der Polizeiwache wird die weiße Fahne gehißt. Vopos werfen ihre Uniformen auf die Straße. Sie laufen mit Akten in den britischen Sektor und bitten dort um Asyl.

Um 13 Uhr ...

Volkspolizisten werfen ihre Uniformen aus dem ersten Stock des HO-Hochhauses, dem Zentralgebäude der staatlichen Handels-Organisation der DDR. Foto: dpa

Quelle: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Panzer in Berlin

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... verkündet der Militärkommandant des sowjetischen Sektors von Berlin, Generalmajor Pawel Dibrowa, in den Ausnahmezustand. Bis 11. Juli 1953 herrscht Kriegsrecht. Damit hat die Sowjetunion offiziell wieder die Regierungsgewalt über die DDR.

Die Sowjetunion setzt allein in Ostberlin rund 600 Panzer ...

Foto: AP

Mit Panzer gegen Demonstranten

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... gegen die Demonstranten ein. Ost-Berliner Arbeiter wehren sich mit Steinen.

Die sowjetischen Truppen ...

Foto: dpa

Mahnkreuz für ein Opfer

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... gehen mit aller Härte vor. Perlia schreibt dazu:

Vor dem Zeughaus wird ein Berliner von einem sowjetischen Panzer überrollt. Schnell wird ein Mahnkreuz errichtet. Propagandagerüste und Fahnen gehen in Flammen auf. Russen im Lastwagen drohen in deutscher Sprache mit Vergeltung.

55 Todesopfer sind durch Quellen belegt. Hunderte wurden verletzt, über 8000 Demonstranten festgenommen und zu Haftstrafen und Zwangsarbeit verurteilt. Gegen 19 "Rebellen" verhängen sowjetische Militärtribunale Todesurteile.

Foto: AP

Quelle: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Otto Grotewohl

Quelle: SZ

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Um 14 Uhr strahlt der DDR-Rundfunk eine Erklärung des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl aus. Der Aufstand sei "das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen".

Die Legende vom angeblich extern geplanten Putschversuch verbreitet die DDR-Regierung bereits am Tag des Aufstands. Diese Darstellung der Ereignisse entspricht der offiziellen Lesart des 17. Juni in der DDR-Geschichtsschreibung.

Foto: AP

Gedenkveranstaltung in Westberlin

Quelle: SZ

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Die Westmächte sind von den Demonstrationen genauso überrascht wie die Sowjetunion und die SED. Die Bundesregierung von Kanzler Konrad Adenauer übt Zurückhaltung. Die Aufständigen können zu keiner Zeit mit Hilfe von außen rechnen. Adenauer will seine Politik der Westintegration nicht gefährden.

Stattdessen übt man symbolische Politik: Am 23. Juni 1953 gedenken bei einer Trauerkundgebung vor dem mit schwarzem Tuch verkleideten Schöneberger Rathaus in Westberlin etwa 500.000 Menschen der Opfer des Aufstandes in Ostberlin und der Sowjetzone. Bundeskanzler Konrad Adenauer hält die Trauerrede vor den Särgen der sieben in Westberlin Verstorbenen.

Am 3. Juli 1953 beschließt der Bundestag, den 17. Juni als "Tag der deutschen Einheit" und gesetzlichen Feiertag zu begehen. Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrags am 29. September 1990 wurde der 3. Oktober zum Tag der deutschen Einheit.

Rückblickend schreibt Egon Bahr, von 1950 bis 1960 Chefkommentator des RIAS, über den 17. Juni: "Niemand hat es für möglich gehalten, dass innerhalb der sowjetischen Machtsphäre Menschen 'von unten' aufbegehren und einen Aufstand beginnen könnten. Insofern war der 17. Juni eine Erstmaligkeit."

Foto: dpa

Eine ausführliche Dokumentation zum 17. Juni 1953 hat die Bundeszentrale für politische Bildung unter www.17juni53.de veröffentlicht.

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