Vor 100 Jahren:Schwarzburger Republik

Am 11. August 1919 unterschreibt Reichspräsident Friedrich Ebert in der Nähe von Weimar die erste demokratische Verfassung Deutschlands. Die Lehre aus der Zeit: Demokratie braucht Demokraten - oder sie geht zugrunde.

Von Robert Probst

Am 11. August 1919 gibt es keinen Festakt, kein Zeremoniell und auch sonst kein Aufsehen. An diesem Sommertag vor 100 Jahren unterschreibt Reichspräsident Friedrich Ebert ein Dokument mit 181 Artikeln, in einem Ort namens Schwarzburg, wo er gerade Urlaub macht, 60 Kilometer von Weimar entfernt. Das Deutsche Reich hat nun eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt. Formal hat sich die deutsche Gesellschaft gerade vom Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs in eine freiheitliche Demokratie gewandelt. Eine Sensation - eigentlich. 1921 wird der 11. August Nationalfeiertag, aber kein gesetzlicher Feiertag; die Zeremonien sind betont nüchtern, eine einigende Wirkung entfaltet dieser Verfassungstag nie. Ein neuer "Geist von Weimar", der die moderne Konstitution mit dem politischen Alltag zusammenbringt, kommt nicht zustande. Es zeigt sich, dass diese Verfassung "nicht im Sonnenglanz des Glücks geboren" wurde, wie es der Staatsrechtler Hugo Preuß ausdrückt, der Mann, der den Text maßgeblich ausgearbeitet hat.

Die Umstände waren in der Tat dramatisch: Die Deutschen hatten die Kriegsniederlage zu verarbeiten, den als demütigend empfundenen Friedensvertrag von Versailles zu verdauen und mussten mit einer von Instabilität und Straßenkämpfen gekennzeichneten Lage fertig werden, die jederzeit einen Bürgerkrieg möglich erscheinen ließ.

Mehr als ein halbes Jahr zuvor hat die Niederlage im Weltkrieg die Sozialdemokraten an die Staatsspitze gebracht. Friedrich Ebert als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten dachte nach dem 9. November 1918 und dem Sturz des Kaisers aber nicht einmal daran, Revolution im sozialistischen Sinne zu machen; ihm genügte im Grunde die Reform, die im Oktober aus dem Kaiserreich eine Parlamentarische Monarchie gemacht hatte. Und er wollte von Anfang an alle entscheidenden Fragen - nach der künftigen Regierungsform (Parlamentarismus oder Räteherrschaft) und der Wirtschaftsform (Privatwirtschaft oder Sozialisierung) - in die Hand einer "Konstituante" legen. Wobei seine Präferenz klar war: Hauptsache kein Bolschewismus, da war er mit vielen Bürgerlichen und Konservativen einer Meinung. Radikale Linke und Kommunisten sahen es anders; es kam zu Aufruhr, Straßenschlachten und vielen Toten, nur mit Hilfe des Militärs konnte sich Ebert an der Macht halten.

Der Dualismus zwischen Reichspräsident und Reichstag wirkt auf Dauer paralysierend

Bei der Wahl am 19. Januar 1919 zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung wurde die SPD dann zwar stärkste Kraft, war aber für eine Mehrheit auf die liberale DDP und das katholische "Zentrum " angewiesen - diese "Weimarer Koalition" genannte Verbindung hielt allerdings nicht einmal bis zur ersten Reichstagswahl 1920. Und Ebert wurde zur Hassfigur - für Monarchisten, Nationalisten und Völkische war er ein "Novemberverbrecher", der die unbesiegten Soldaten von hinten erdolchte. Für die radikalen Linken wiederum "verriet" er die Revolution.

Die Verfassungsgebende Nationalversammlung tagte schließlich vom 6. Februar an nicht in Berlin, sondern in Weimar. Die Regierung fühlte sich in der Stadt in Thüringen sicher vor gewaltbereiten Massen, denen die Revolution nicht weit genug gegangen war, und Konterrevolutionären, die mit Gewalt die alten Verhältnisse wieder herzustellen trachteten. Zugleich wollte Ebert den süd- und westdeutschen Ländern buchstäblich entgegenkommen. Viele Landespolitiker sahen alles Übel schon immer vom übergroßen Preußen und den Militaristen in Berlin ausgehen. Auch mit dieser Ortswahl wurde die Einheit des Reiches bewahrt.

Friedrich Ebert mit seiner Frau in der Sommerfrische, 1919

Friedrich Ebert (Zweiter v. rechts) mit seiner Ehefrau Louise (Dritte von rechts) in der Sommerfrische in Schwarzburg. Mit auf dem Bild sind Otto Meissner, führender Mitarbeiter des Präsidialbüros mit seiner Ehefrau Hildegard (Zweite v. links), seinem Sohn Hans-Otto und dessen Kinderfrau.

(Foto: SZ Photo)

Die 423 Abgeordneten - unter ihnen erstmals 37 Frauen - fanden dort einige vollendete Tatsachen vor. Denn seit dem Auftrag an den bürgerlichen Staatsrechtler Preuß, einen Entwurf zu erarbeiten, war klar: Marxistische Reformen stehen nicht an. Preuß betrachtete es als seine Aufgabe, in der Verfassung "den politischen und staatsrechtlichen Niederschlag der Revolution festzulegen". Eberts Wunsch-Staatsform der Republik stand also fest. Von Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien war nicht mehr die Rede.

Am Ende werden zum ersten Mal in der deutschen Geschichte in der Verfassung "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" aufgeführt. Dazu gehören das Frauenwahlrecht, die betriebliche Mitbestimmung, das Recht, gewerkschaftlich tätig zu werden und auch die Trennung von Staat und Kirche. Den Ländern wird weitgehend die Macht genommen, die sie seit der Reichsgründung 1871 gehabt haben. Als neues Machtzentrum wird der Reichstag mit mehr Rechten ausgestattet. Hier werden Gesetzgebung, Budgetrecht und Kontrolle der Exekutive ausgeübt. Die Reichsregierung ist vom Wohlwollen des Reichstages abhängig - doch anders als später im Grundgesetz wird lediglich ein negatives und kein konstruktives Misstrauensvotum installiert: Das Parlament kann den Kanzler abwählen, ohne einen Nachfolger bestimmen zu müssen.

Als Gegengewicht zum Reichstag wird der Reichspräsident als eine Art "Ersatzkaiser" mit extrem starken Rechten ausgestattet: per Volkswahl für sieben Jahre, Recht zur Reichstagsauflösung, Notverordnungsrecht, Oberbefehlshaber der Reichswehr. Damit ist das politische Zentrum der Macht nicht eindeutig markiert - der Dualismus zwischen Reichspräsident und Reichstag wirkt in der politischen Praxis auf Dauer paralysierend. Ein Verfassungsgericht zur Klärung solch fundamentaler Fragen aber gibt es nicht.

"Gleichberechtigung der Geschlechter"

Zum Jahrestag ist viel darüber diskutiert worden, ob die Weimarer Reichsverfassung nicht doch viel besser war als ihr Ruf. In einem Punkt jedenfalls war sie ihrer Zeit weit voraus. Die Ehe, so hieß es in Artikel 119 zwar noch ganz traditionell, sei Grundlage des Familienlebens sowie der Erhaltung und Vermehrung der Nation. Dann aber folgte der Satz: "Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter." Frauenrechtlerinnen hatten ihn durchgesetzt, und hätte man ihn ernst genommen, man hätte das patriarchale Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) umschreiben müssen. Aber das ließen die männlichen Rechtsdeuter nicht zu: "Hier handelt es sich um Zukunftsrecht, nicht um Gegenwartsrecht", kommentierte der einflussreiche Staatsrechtler Gerhard Anschütz in vollem Ernst. "Der Verfassungstext war seiner Zeit weit vorausgeeilt", sagte Verfassungsrichterin Gabriele Britz kürzlich in einem Vortrag. Wirkungslos verpufft ist er dennoch nicht - seine Zeit sollte kommen. Denn als das Grundgesetz verabschiedet wurde, war die Situation ganz ähnlich. "Männer und Frauen sind gleichberechtigt", hieß es nun in Artikel 3. Aber immer noch beherrschte das verknöcherte BGB das Familienrecht, und Richter verteidigten die Tradition. "Es wäre in hohem Maße gefährlich, die männliche Familienleitung aufzuheben und, was die Entscheidung der gemeinsamen ehelichen Angelegenheiten angeht, die Anarchie in Ehen einzuführen", schrieb in den 1950er-Jahren der Bundesgerichtshof. Und als das Bundesverfassungsgericht den immer noch geltenden Vorrang der Väter in Familiendingen auf dem Tisch hatte, musste sich die zuständige Richterin Erna Scheffler gegen den Widerstand ihrer männlichen Kollegen durchsetzen. Dass sie am Ende Erfolg hatte, das hat sie auch den Vorkämpferinnen aus der Weimarer Zeit zu verdanken. Im Urteil von 1959 bezieht sich das Gericht nämlich ausdrücklich auf jenen Artikel 119 - und auf den erklärten Willen der Grundgesetzmütter und -väter, man dürfe beim Thema Gleichberechtigung nicht hinter die Weimarer Reichsverfassung zurückgehen. Wolfgang Janisch

Am 31. Juli nimmt die Versammlung den Text mit 262 zu 75 Stimmen, bei 84 abwesenden Abgeordneten an. Drei Tage nach Eberts Unterschrift tritt die Verfassung am 14. August in Kraft.

Als der Reichspräsident am 21. August im Nationaltheater von Weimar auf die Verfassung vereidigt wird, versucht er, wenigstens ein bisschen Pathos zu verbreiten: "Das Wesen unserer Verfassung soll vor allem Freiheit sein, Freiheit für alle Volksgenossen. Aber jede Freiheit, an der mehrere teilnehmen, muss ihre Satzung haben. Diese haben Sie geschaffen; gemeinsam wollen wir sie festhalten." Als "Lebensgrundsatz des deutschen Volkes" wählt er den Satz: "Für Freiheit, Recht und soziale Wohlfahrt!"

Doch in Erinnerung bleiben nicht diese Worte, sondern Hohn und Spott. Just an diesem Tag hat die Berliner Illustrirte Zeitung - in scherzhafter Absicht, wie betont wird - auf ihrem Titel ein Privatfoto von Ebert und Reichswehrminister Gustav Noske in damals als unschicklich empfundenen Badehosen abgedruckt. Das Foto wird bald genutzt für derbe Verunglimpfungskampagnen von Republikfeinden gegen den SPD-Politiker, die ihn bis zu seinem Tod 1925 verfolgen werden.

Eberts Nachfolger wird der alte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Nichts liegt dem Mann, der während des Krieges jeden Vorstoß für den Frieden boykottierte, ferner, als ein guter demokratischer Präsident zu sein. Die Parteien machen es ihm einfach. In all den 14 Jahren ihrer Existenz gelingt es der Weimarer Republik nur selten, stabile Mehrheitsregierungen zustandezubringen. Minderheitsregierungen sind die Regel, kaum eine Legislaturperiode wird vollständig absolviert. In Gestalt der NSDAP und der KPD erstarken Parteien, die zum Ziel haben, den Parlamentarismus zu zerstören. Adolf Hitler gibt die Taktik aus, die Macht auf "legale" Weise zu übernehmen. Anders als Ebert nutzt Hindenburg die Instrumente der Verfassung im Sinne seiner autoritären Staatsführung, regiert mit Notverordnungen und Präsidialkabinetten, um die Demokratie zu schwächen.

Ansprache des vereidigten Reichspräsidenten Ebert, 1919

Nach seiner Vereidigung hielt Ebert auf dem Balkon des Nationaltheaters in Weimar eine Ansprache an die Bevölkerung.

(Foto: SZ Photo)

Es ist heute Konsens unter Historikern, dass die Weimarer Republik nicht an der Verfassung gescheitert ist. Sie hatte zwar Mängel, führte aber nicht zwangsläufig in die Katastrophe von 1933. Es hätte aber auch anders kommen können, sie war modern und sogar überraschend widerstandsfähig - sie überstand Putschversuche von links und vor allem von rechts, außerdem die Hyperinflation und außenpolitische Krisen. Was sie nicht überstand, war, dass in Verwaltung, Justiz und Reichswehr der alte Geist des Obrigkeitsstaats nicht ausgetrieben worden war und dass spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 1929 nur noch recht wenige Deutsche etwas von Republik und Parlamentarismus hielten. Sie hatten genug vom "System", sie wollten zurück zu nationaler Stärke, den "Schandfrieden von Versailles" überwinden, viele wünschten sich einen starken Führer. Den bekamen sie dann auch, 1933.

Die Verfassung, die wahrlich nicht im "Sonnenglanz des Glücks" geboren wurde - wie es der Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm ausdrückte -, fand zu wenig Liebe bei den Deutschen. Sie mochte nicht missglückt sein, sie war aber glücklos.

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